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ASSIMILATION IST NICHT DAS ZIEL

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In der Tempelgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist ein sephardi-sches Zentrum entstanden, es symbolisiert den Beginn neuen jüdischen Lebens in Wien. Anfang der siebziger Jahre begann die Einwanderung sowjetischer Juden in Wien. Sie kommen aus den europäischen und asiatischen Gebieten, aus dem europäischen Raum kommen aschkenasische Juden, während die sephardischen Juden vorwiegend aus Buchara, Grusinien und aus Usbekistan stammen. Die Gründe für die Auswanderung sind komplex: Einerseits haben viele Juden Angst vor dem ansteigenden Antisemitismus und Nationalismus in den verschiedenen Republiken, andererseits zwingt die wirtschaftliche und soziale Situation viele Juden zur Emigration.

Die Migration vieler Juden verläuft oft nicht direkt nach Österreich, sondern über Israel. Wenn sie sich dort nicht zurechtfinden, wählen einige Österreich als ihre neue Heimat. Zur Zeit dürften ungefähr 10.000 sowjetische Juden in Wien leben. So vielfältig die Gründe für die Emigration sind, so unterschiedlich ist der Personenkreis der sowjetischen Juden zusammengesetzt. Rund ein Drittel davon sind orthodoxe Juden, während ein kleinerer Teil keine religiöse Erziehung erhielt.

Ein Beispiel für die letztere Gruppe sind Anna und Wladimir aus Leningrad. Sie ist Malerin und er Schriftsteller, gemeinsam mit anderen Intellektuellen gaben sie eine Untergrundzeitung heraus. Diese Tätigkeit brachte sie in Konflikt mit dem KGB, der sie mehrmals verhörte und Annas Bilder beschlagnahmte, die sie bis heute nicht zurückerhalten hat. Sie leben seit zwei Jahren in Wien und fristen das Dasein politischer Emigranten. Nur Anna ist jüdisch, weiß aber wenig über das Judentum. Erst in Wien begann sie sich mit ihrer jüdischen Herkunft und der Religion zu beschäftigen. Anna wurde die Aufnahme an die Akademie verwehrt und Wladimir, der Germanist ist, muß warten bis sein Examen nostrifiziert ist, bevor er sich um eine Stelle bewerben kann.

Vielen Menschen aus der Sowjetunion nützt der formal hohe Ausbildungsgrad nichts, da er den hiesigen Standards nicht entspricht. Ein sowjetischer Computerfachmann hat in der hiesigen Branche kaum eine Chance unterzukommen. Andererseits kommen auf zwölf Arbeiter 213 Komponisten und Musiker. Einfacher haben es Handwerker, wie Schuster, die mit kleinen Anfangskosten einen Laden eröffnen können.

Für viele ist die Wohnungssituation dramatisch. Da sie die hohen Mietkosten nicht bezahlen können, sind sie gezwungen, auf engstem Raum zusammenzuleben. Am ehesten können sich noch jene beruflich und sozial integrieren, die in Wien schon Familienangehörige haben und somit über eine Starthilfe verfügen. Die gesellschaftliche Integration durch familia-le Kooption ist aber nur eine Möglichkeit, solange die Einwanderungsrate relativ gering ist. Bei einer steigenden Zahl von Emigranten wird es immer schwieriger werden, sie über die familialen und jüdischen Netzwerke zu integrieren. Da bis zum Jahr 1995 mit ungefähr 50.000 nach Wien emigrierenden Juden aus der Sowjetunion zu rechnen ist, müssen staatliche Hilfen auf den verschiedenen Ebenen gebildet werden, da die vorhandenen jüdischen Institutionen bei der Bewältigung dieser Probleme überfordert sind.

Eine Institution, die sich dieser Aufgaben annimmt, ist Beth Chabad. Weltweit unterhält Beth Chabad Kindergärten, Schulen und ähnliche Einrichtungen. Vor etwa zehn Jahren wurde der Rabbiner Jacob Biderman aus New York nach Wien geschickt, um sich um die Belange der Juden aus Osteuropa zu kümmern. Zuerst wurde ein Kinderhort gegründet. Heute besteht im neunten Bezirk eine Volksund Hauptschule. Hier erwerben die Kinder die erforderlichen Schulkenntnisse. Der Religionsunterricht bietet ihnen die Möglichkeit, ihre jüdische Identität zu wahren. Beth Chabad umfaßt zusätzlich ein Jugendzentrum und bietet EDV-Kurse und Sommer-und Winterlager während der Schulferien an.

Schulische Einrichtungen sind für die zweite Generation besonders wichtig, da sie über eine qualifizierte Ausbildung auf dem österreichischen Arbeitsmarkt eine Berufschance erhalten, die die erste Generation nicht hat und die deshalb meist auf ökonomische Nischen, wie etwa Marktstände, angewiesen ist. Doch mit steigender Zuwanderung werden diese Nischen immer enger, sodaß schulische Förderung und Erwachsenenbildung von großer Bedeutung sind. Im Jahr 1991 maturierten erstmals Kinder von sowjetischen Juden am Zwi Perez Chajes-Gymnasium.

Während etliche aschkenasische Juden aus der ehemaligen Sowjetunion Mitglieder der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse sind, schlössen sich die sephardischen Juden zu einer eigenen Gemeinde zusammen. Die Synagoge befindet sich im zweiten Bezirk und wird seit einigen Jahren von Rabbiner Israilov geleitet. Die aus Asien stammenden Juden unterscheiden sich von den europäischen durch eine stärker religiös ausgerichtete Lebensführung. Ihnen fällt es schwerer, sich in Wien zu integrieren, da die religiöse und kulturelle Tradition bei ihnen eine größere Rolle spielt und eine Assimilierung an die gesellschaftliche Umgebung nicht unbedingt angestrebt wird. Rabbiner Israilov berichtet von den sozialen Problemen seiner Gemeinde, von der Arbeitslosigkeit, aber auch von der guten Zusammenarbeit mit den österreichischen Behörden. Durch den Antisemitismus in seiner früheren Heimat war es beispielsweise für ihn nicht möglich, sich orthodox zu kleiden. Viele sowjetische Juden können sich erst hier öffentlich zu ihrer Religion bekennen, in der Sowjetunion wäre dies nur unter Diskriminierungen möglich gewesen.

Ein Problem für religiöse Juden ist die Einhaltung des Sabbat. Herr Neasov, der mit seiner Familie im zweiten Bezirk lebt und im zwölften Bezirk einen Marktstand hat, muß sein Geschäft am Samstag offen halten und kann deshalb den Sabbat nicht entsprechend feiern. Er erzählt von den schwierigen Anfangsjahren in Wien, ein Bekannter lieh ihm das Geld für den Marktstand. Heute lebt er mit seiner Frau, seiner Mutter und den drei Töchtern zufrieden in einem koscheren Haushalt. Die privaten Kontakte sind auf Verwandte und jüdische Freunde beschränkt, seine größte Angst besteht darin, daß eine seiner Töchter einen NichtJuden heiraten könnte.

Problematisch ist auch die Situation vieler Mädchen. Da die Eltern oft ganztags arbeiten, müssen sie den Haushalt führen und haben daher keine qualifizierte Berufsausbildung. Sollten sie sich später für ein assimiliertes Leben entscheiden, haben sie wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Außerdem entsteht für sie eine Identitätsproblematik: Sie werden füreine traditionelle Frauenrolle erzogen, leben aber in einer Gesellschaft, die die selbständige und berufstätige Frau propagiert. Junge Frauen aus Familien, die kaum religiös leben oder areligiös sind, können sich leichter in die nichtjüdische Umwelt integrieren. Die Identitätsproblematik wird für viele Juden spürbar: Wieweit wollen sie sich assimilieren, wie können sie ihre religiöse und kulturelle Identität beibehalten?

Im Unterschied zu den früheren Einwanderungswellen nach Wien ist eine einfache Assimilierung an die bestehende Majoritätsgesellschaft weder wünschenswert noch möglich. In Zukunft wird es um die Frage einer multikulturellen Integration gehen. Dies würde bedeuten, daß sich die Einwanderer segmentiert assimilieren, also etwa auf dem Arbeitsmarkt und teilweise in ihrem Alltagsleben, andererseits aber eine ethnische und religiöse Eigenheit nicht nur bewahren, sondern in der Auseinandersetzung mit der Umwelt neu definieren.

Der Autor ist freiberuflich tätiger Soziologe und arbeitet derzeit an einer Studie „Zur jüdischen Identität in Österreich".

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