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ASVG als Bibel?

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Der Sozialstaat erfüllt sein Ziel nur dann, wenn er wirtschaftlich leistungsfähig bleibt, wenn er sozial gerecht ist und wenn er die Kräfte des einzelnen Bürgers entfalten hilft, anstatt sie verkümmern zu lassen. Gegen diesen Grundsatz moderner und erfolgreicher Sozialpolitik wurde in den letzten Jahren recht häufig verstoßen. Alle möglichen Bindestrichpolitiken, wie z. B. die Wirtschafts-, Bildungs-, Gesund-heits-, ja selbst die Kulturpolitik, wurden als Varianten zum großen Thema „Sozialpolitik“ betrieben. Allen politischen Maßnahmen lag das Postulat der Gleichmacherei auf niedrigerem Niveau zugrunde. Gratisschulbuchaktion, Schülerfreii'ahr-?en und Heirats- uiid Geburtenbeihilfen sind sozialpolitische Märksteine dieser Absicht, möglicherweise gut gemeint, nie jedoch auch ökonomisch kalkuliert. Ein Eekord-budgetdefizit von mehr als 30 Milliarden Schilling und die Absicht des Finanzministers, die Mehrwertsteuer in einer Konjunkturrezession auf europäisches Rekordniveau anzuheben, zeigen heute, wie wenig durchdacht die Sozialpolitik der Bundesregierung von allem Anfang an war. Selbst den ehernen sozialistischen Grundsatz, wonach preiswirksame Steuern noch unsozialer als einkommenswirksame Steuern sind, mußte man aufgeben.

Heute wirft die ÖVP der Bundesregierung auf tristfarbenen Plakaten agressiv vor, sie wäre nicht mehr imstande, die Sozialleistungen finanziell sicherzustellen. Als Beispiel dafür nannten die ÖVP-Sozialsprecher Kohlmaier und Schwimmer die argen finanziellen Schwierigkeiten der Sozialversicherungen. Finanzminister Androsch habe im Bundesbudget nicht genügend Mittel für die Zuschüsse an die Versicherungsanstalten ausgewiesen. 12,5 Milliarden Schilling sind im Bundesvoranschlag geplant, rund 17 Milliarden Schilling werden aber tatsächlich dafür benötigt. Für die notwendigen Überweisungen des Bundes an die Sozialversicherungsanstalten mußte der Finanzminister zuletzt Kredite aufnehmen. Gewiß, das geschah nicht zum erstenmal, problematisch sind nur Zeitpunkt und Höhe der Überbrückungskredite für die Renten- und Pensionsfinanzierung.

Dabei sind die Probleme der Sozialpolitik der letzten Jahre in ihrem vollen Ausmaß noch nicht erkennbar. Weiter sinkende Steuererträge auch bei gleichbleibenden Sozialausgaben müssen das Loch sowohl vertiefen als auch verbreitern.

Es hat gar keinen Sinn, sieh über dieses Faktum hinwegzutäuschen: Nach der Anlage des österreichischen Sozialsystems müssen die Belastungen für den einzelnen Bürger auch dann ständig weitersteigen, wenn keine neuen sozialen Leistungen hinzukommen. Allein die Stagnation der produktiven Bevölkerung und ein wachsender Anteil an Rentnern und noch nicht arbeitenden bzw. studierenden Jugendlichen schieben die soziale Last auf immer weniger Schultern. Sinkt dann, wie jetzt eben, das Sozialprodukt, so müßte ein noch größerer Anteil des dann kleiner werdenden Kuchens für die Sicherung des bisherigen sozialen Status verwendet werden. Soll diese Last nicht unerträglich werden, dann müssen nicht nur neue Forderungen zurückgehalten werden. Das bestehende Sozialsystem ist auf „Errungenschaften“ zu prüfen, deren sozialer Nutzen viel geringer ist als der Schaden, den sie der gesamten Ordnung zufügen.

Wer heute im Wahlkampf solche Sorgen äußert, wird gleich der sozialen Demontage verdächtigt. Und das deshalb, weil soziale Demontage mit Recht dem politischen Selbstmord gleichgesetzt wird. Die Frage ist nur, ob auf Dauer soziale Demontage nicht gerade darin besteht, alle einmal eingeführten Besitzstände zu tabuisieren, anstatt sie laufenden Kontrollen zu unterwerfen. Denn wenn sich die Bevölkerung und Beschäftigung, der Ausbildungsstand und das Leistungsvermögen, die Technik und die Wirtschaft fortgesetzt verändern, dann benötigen auch manche Besitzstände Überprüfung, ob sie noch sozial gerecht und wirtschaftlich verantwortlich sind.

Weder die Kritik der beiden VP-Sozialsprecher Kohlmaier und Schwimmer, noch ihre Vorschläge lassen vermuten, daß die Volkspartei in diesem Bereich einen zweckmäßigen Kurs einschlägt. Beide sind gewohnt, in den Kategorien der quantitativen Sozialpolitik zu denken und zu argumentieren. Das ASVG ist ihre Bibel, die jeweils letzte Novelle dazu ihr sozialpolitisches Stoßgebet. Hoffnung kann in diesem Zusammenhang nur erwecken, daß beide die Auffassung vertreten, daß Wirtschafts- und Sozialpolitik der Harmonisierung bedürfen. Hoffnungen in dieser Richtung machen auch die freilich recht unpräzisen Vorschläge für Hilfeleistungen an die unorganisierten Bedürftigen im sozialen Wohlfahrtsstaat.

Es ist ein Gebot der Stunde, zu überlegen, wie Leistungskraft der Wirtschaft und sozialer Fortschritt so in Einklang zu bringen sind, daß nicht das eine der Ruin des anderen wird, sondern beides vernünftig ausgebaut wird. Eine Partei allein wird aus politischen Gründen nicht imstande sein, neue sozialpolitische Wege zu gehen, weil solche neue Wege immer gleichbedeutend mit dem Verlassen ausgetretener Pfade sind. Neue sozialpolitische Wege bedürfen deshalb eines großen politischen Konsenses.

Es hat heute den Anschein, als würden die Österreicher tieferes Verständnis denn je dafür haben. Es hat heute ferner den Anschein, als zeigten die Staatsbürger Bereitschaft, das Treibhaus einer Anspruchsgesellschaft zu verlassen, die doch nur noch Wünsche, aber keine Pflichten mehr kennt. Deshalb sollte man die Zeit für eine neue Orientierung in der Sozialpolitik nützen.

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