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Atemloses Argentinien

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Es knistert im Gebälk Argentiniens. Die morschen Träger der politischen Dauerkrise seit 1930, die aus einem reichen Land einen Dritte-Welt-Staat gemacht hat, fangen Feuer. Die Funken der Euphorie werden beim Zimmern einer neuen demokratischen Ordnung geschlagen, die mit der Wahl von Raul Alfonsin für Argentinien als historische Chance greifbar wird.

Zwei Monate ist der neue Präsident im Amt, und schon ist der Funke auch auf Jorge Luis Borges, den Dichter, der in der Demokratie nur Chaos sah, übergesprungen. Nicht mehr die Erwartung des Todes ist der Sinn, den der 83jährige im Leben sieht: „Es ist sogar meine Pflicht weiterzuleben!" läßt er sich zu seltenem Optimismus hinreißen.

Jüngere Generationen in Argentiniens Kulturleben, das Jahrzehnte im Würgegriff der Angst und der Zensur lag, greifen begeistert nach der Flamme der Freiheit. So ließ eine Künstlerin inmitten von Buenos Aires in einem Happening ein 12-Meter-Modell des Parthenon von einem Kran mit 20.000 Büchern füllen - ein Geschenk der Meinungsfreiheit an die Vorübergehenden.

Elf Galerien und Museen ma-i Ausstellungen zu einem Thema - „Hommage für die Demokratie". Die potente Filmindustrie beginnt die Schrecken der letzten Jahre aufzuarbeiten, ohne Schnitte zu fürchten. Die vielfältige Presse atmet frei, und die staatlichen Funk- und TV-Anstalten sind bereits dem direkten Zugriff der Ministerien entzogen.

Aber die sprühende Euphorie wird durch Schattenfelder geteilt: Die Freiheit aufzudecken, was in den Jahren des militärischen „Ordnungmachens" geschah -„destape", Enthüllung, ist das Wort der Stunde —, fördert täglich mit geöffneten Massengräbern und Leichenfunden, mit Gerichtsund Amtshandlungen neue Greuel an den Tag.

Der Schmerz wird wieder frisch, wenn Verwandte ihre „de-saparecidos", ihre Verschwundenen, endlich finden — tot, gefoltert, geteilt, um die Identifizierung zu erschweren.

Daß die Gräber geöffnet, die Listen der da Hineingeworfenen freigegeben werden, gehört zu den Aufgaben, die sich die Regierung Alfonsin gestellt hat: Sühne, so der Präsident, gibt es nur über die Wahrheit.

Die Praxis in einem Land, in welchem die Armee lange der Staat war, sieht nicht ganz so klar aus. Alfonsin kann sich nicht das ganze Militär zum Feind machen, obschon es durch den „schmutzigen Krieg" gegen die Opposition und die verlorene Schlacht um die Malvinas angeschlagen ist.

Daß er die „Wahrheit" sucht, wird jeden Tag aufs Neue belegt. Wie er die „Sühne" sieht, zeigt seinen Instinkt für das Machbare: Nicht alle uniformierten Exekutoren der Massaker werden zur Rechenschaft gezo-. gen, sondern nur die Obersten — die Juntageneräle stehen vor dem Militärtribunal.

Wiewohl Alfonsin sofort im Tribunal die Richter und auch die Heeresführung austauschte, bringt ihm dieses Vorgehen die Kritik der argentinischen Menschenrechtsvereinigungen. Sie protestierten auch gegen die Einrichtung einer Kommission, welche die Geschichte des „schmutzigen Krieges" aufklären soll, weil es eine unabhängige und keine mit allen parlamentarischen Vollmachten ausgestattete ist. — Nobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel, in die Kommission gebeten, lehnte deshalb ab.

Alfonsins Gratwanderung muß aber nicht nur die Armee in Schach halten und jene zufriedenstellen, denen er die Sühne für den „schmutzigen Krieg" versprochen hat. Seine Entschlossenheit, aus Argentinien einen Rechtsstaat zu machen, formiert den gemeinsamen Widerstand der bei den Wahlen noch aufgesplitterten und unterlegenen Peronisten — die zunächst die Zusammenarbeit angekündigt hatten. Denn Alfonsin macht auch vor den vertikalen, also scheindemokratischen Strukturen der peronisti-schen Gewerkschaften und den linksperonistischen Terrorakten der „Monteneros" und des trotz-kistischen „Ejercito Revoluciona-rio del Pueblo" nicht halt.

Bei der Debatte über das neue Gewerkschaftsgesetz im Abgeordnetenhaus kam es dieser Tage zu Brüllszenen im Plenum und zu peronistischen Straßenkrawallen, weil das Gesetz Neuwahlen in allen Betrieben innerhalb von 120 Tagen vorsieht, den Minderheiten eine 25prozentige Vertretung unter den Betriebsräten sichert und so die Machtverfilzung der peronistischen Gewerkschaftsbosse bricht. Zwar ging das Gesetz im Hause durch, aber der Senat, in dem Alfonsins „Union Civica Ra-dical" keine Mehrheit hat, kann es noch zu Fall bringen.

Die Peronisten sind auch erbittert, weil es keinen Pardon für Linksterroristen gibt. Strahlend kehrten Ende Dezember zwei hohe „Montenero"-Kommandanten aus dem Exil nach- Argentinien zurück. Beide wurden prompt — übrigens mit richterlichem Haftbefehl, wie es der Rechtsstaat verlangt — festgenommen.

Außenpolitisch kann die neue Regierung zaghafte Erfolge vorweisen. Der Grenzstreit mit Chile um den Beagle-Kanal, in dem seit Jahren der Vatikan vermittelt, konnte entschärft werden. Und nach Großbritannien wurden über den italienischen Premier die ersten Kontakte nach dem Südatlantikkrieg geknüpft.

Raul Alfonsin belegt mit seinem entschiedenen Vorgehen in der Innenpolitik, daß er ein eminent politischer Präsident ist, dem es vielleicht gelingt, die historische Chance zu einem Neubeginn in Argentinien zu nützen. Ohne Lösung ist jedoch noch immer die wirtschaftliche Seite: Die Inflation steigt weiter und die Frage der Umschuldung ist unbeantwortet.

Trotzdem- kömmt der Politik Priorität zu: Wie Präsident Alfonsin mit seinen Militärs fertig wird, bestimmt auch die Zukunft der Nachbarländer mit.

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