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Atom-Fabrik mit beschr. Haftung

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Wie funktioniert eigentlich eine atomare Wiederaufar-beitungsanlage ä la Wak-kersdorf? Im Störfall sind der Katastrophenphantasie jedenfalls keine Grenzen gesetzt.

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Wie funktioniert eigentlich eine atomare Wiederaufar-beitungsanlage ä la Wak-kersdorf? Im Störfall sind der Katastrophenphantasie jedenfalls keine Grenzen gesetzt.

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Die Folgen eines katastrophalen Unfalls in einer in Betrieb befindlichen atomaren Wieder-aufarbeitungsanlage (WAA) in Wackersdorf/Bayern für Österreich lassen sich nach dem SuperUnfall im Atomkraftwerk von Tschernobyl in der Ukraine lediglich erahnen.

Interessanter jedoch, auch weil weitgehend unerforscht, ist der unspektakuläre Normalbetrieb samt routinemäßigen kleinen

Störfällen. Denn was passiert nun bei der Wiederaufarbeitung von nuklearem Material tatsächlich?

Die verbrauchten Brennelemente werden nach der Entnahme aus dem Reaktor eines Kernkraftwerkes bis zu sieben Jahre lang gelagert, damit ein Großteil der radioaktiven Spaltprodukte zerfällt; hohe Aktivität stört nämlich beim Aufarbeitungsprozeß.

Während der Lagerzeit erzeugt der radioaktive Müll Wärme, die kontinuierlich abgeführt werden muß. Zu diesem Zweck stehen die Behälter mit den Brennelementen einzeln in einer großen Lagerhalle, die Öffnungen in den Wänden und an der Decke haben muß, damit Luft durchziehen und die Behälter kühlen kann.

Der Vorteil dieser sogenannten Natur-Zugluftkühlung ist ihre Unabhängigkeit von aktiver Kühlung (zum Beispiel durch Wasser), die ja bei einem Stromausfall versagen kann. Sie hat aber den Nachteil, daß aus eventuell unbemerkt undicht werdenden Behältern Radioaktivität ungehindert ins Freie gelangt.

Die hinreichend gelagerten und abgeklungenen Brennelemente — was relativ zu verstehen ist, denn ihre Handhabung ist noch immer sehr kompliziert — gelangen nun in den eigentlichen Aufarbeitungsprozeß.

Sie werden zunächst zerschnitten und in Salpetersäure aufgelöst. Durch ein organisches Lösungsmittel werden Uran und Plutonium aus der Lösung extrahiert, voneinander getrennt und zum erwünschten Endprodukt, nämlich Mischoxid-(Mox-) Brennelementen verarbeitet.

Der Großteil des herausgelösten wiederaufgearbeiteten Urans (WAU) wird als Nitratlösung gelagert, weil in den derzeit zur Verfügung stehenden Anlagen keine Wiederanreicherung möglich ist— ein in die Zukunft verschobenes und — wenn die Verwertung oder Endlagerung einmal ansteht — möglicherweise recht unangenehmes Problem.

Die abgetrennten Spaltprodukte werden in Glas gegossen, in

Stahlbehältern (sogenannten Stahlkokillen) verpackt und zunächst einmal - wieder für ein paar Jahrzehnte — zwischengelagert, weil sie noch immer zu viel Wärme produzieren. Danach sollen sie dann in ein Endlager, das aber derzeit noch nicht existiert.

Neben den Spaltprodukten fallen bei der Wiederaufarbeitung verschiedene andere „Sorten“ von Atommüll an, die gleichfalls „entsorgt“ werden müssen: die bei der Auflösung übriggebliebenen unlöslichen Reste der Brennelement-Hüllen, der „Klärschlamm“, kontaminierte Chemikalien, tritiumhaltiges Wasser, „volle“ Filter, radioaktive Putzfetzen und nach spätestens 40 Jahren schließlich die ganze WAA-Fabrik — alles mehr oder weniger stark radioaktiv.

Hier zeigt sich der größte Nachteil einer WAA gegenüber der direkten Endlagerung der abgebrannten Brennelemente: solange die Brennelemente noch nicht mechanisch oder chemisch zerlegt wurden, sind sie zwar auch gefährliche „Dinge“, aber immerhin ist ihr Inventar in fester Form in ihnen konzentriert und dadurch am Kontakt mit der Umwelt — vergleichsweise! — wirksam behindert.

Bei der Aufarbeitung hingegen wird das radioaktive Material über viele Pfade in den verschiedensten physikalischen und chemischen Zuständen verteilt, wodurch die Wahrscheinlichkeit (zumeist „kleiner“) radioaktiver Freisetzung steigt. Die Praxis der Wiederaufarbeitung in den letz-

ten 40 Jahren bestätigt leider diese Befürchtung.

Das Argument der Befürworter der Wiederaufarbeitung stimmt, daß es dabei im Vergleich zum Betrieb eines Atomkraftwerks, was die physikalischen Bedingungen betrifft — keine so hohen Drucke und Temperaturen -, harmlos zugeht. Andererseits liegt das radioaktive Material in einer Wiederaufarbeitungsanlage in leicht flüchtiger Form vor. Außerdem sind wegen der Komplexität des Wiederauf arbeitungsprozesses mehr Störfälle denkbar als in einem Atomkraftwerk.

Was die radioaktiven Emissionen einer Wiederaufarbeitungsanlage schließlich betrifft, so muß zwischen Normalbetrieb und Störfall unterschieden werden.

Schon beim Zerschneiden und Auflösen der Brennelemente werden — wie erwähnt — große Teile der leicht flüchtigen und bis dahin in den Hülsen und im Brennstab-Metall selber gebundenen Spaltprodukte frei, unter anderen Krypton-85 und Jod-129.

Krypton-85 kann nach dem derzeitigen Stand der WAA-Technik gar nicht zurückgehalten werden. Immerhin wurde den Wackersdorf-Erbauern in der ersten Teilerrichtungsgenehmigung die strenge Auflage erteilt, eine Krypton-Rückhaltung zu entwik-keln und diese einzubauen, aber nur für den Fall, daß eine solche auch tatsächlich funktioniert.

Strenge Auflagen?

Jod-129, ein überaus langlebiger Bruder des nach dem Tschernobyl-Unfall „berühmt“ gewordenen kurzlebigen Jod-131, kann zwar mit Filtern zum größten Teil am Verlassen der Anlage gehindert werden. Jedoch taucht ein -zwar kleiner, aber möglicherweise größer als beabsichtigter — Teil davon im Aufarbeitungsprozeß unter und verteilt sich in die verschiedensten Produktströme. Solcherart schwer zu erfassen, könnte auch mehr Jod-129 als geplant und zulässig in die Umwelt gelangen.

Krypton reichert sich im menschlichen Organismus im Unterschied zum Jod (Schilddrüse!) zwar nicht an und ist deshalb auch weniger gefährlich. Es wird aber angenommen, daß die Erhöhung des Krypton-Gehalts der Luft zu

vermehrten Waldschäden führt.

Abgesehen von den beiden genannten werden auch im WAA-Normalbetrieb ständig kleinere oder größere Mengen aller möglichen Elemente ins Freie gelassen - und „gesund“ ist davon keines. Die verschiedenen Destillationsschritte, die Verglasung der Spaltprodukte und die Mischoxid-Herstellung sind weitere Quellen radioaktiver Emissionen. Im wesentlichen gelangen sie zum Beispiel in Wackersdorf durch drei Kamine - darunter der besonders umstrittene 200 Meter hohe — sowie übers Abwasser in die Umwelt.

Im Störfall ist in einer Wiederaufarbeitungsanlage der Katastrophenphantasie eigentlich keine Grenze gesetzt.

„Normale“ Unfälle wie Rohrbrüche, chemische Explosionen (wegen der im Wiederaufarbei-tungsprozeß verwendeten leicht entzündlichen organischen Lösungsmittel), nukleare Explosionen (Kritikalitäten) von etwa Handgranatenstärke, Filterbrüche und vieles andere mehr verlaufen noch relativ harmlos, kommen aber statistisch gesehen recht häufig vor, und ihre Langzeitfolgen summieren sich.

Große Unfälle wie zum Beispiel die Freisetzung des radioaktiven Materials eines Lagertanks für hochaktives Spaltproduktkonzentrat („High aktive waste-HAW-Puffertank“) könnten aber die Dimension kleinerer Weltuntergänge annehmen.

So etwas ist vermutlich erst einmal, aber auch da nur in relativ kleiner Größenordnung, gemessen am schlimmsten denkbaren Super-Gau in einer Wiederaufarbeitungsanlage, 1957 in der Sowjetunion passiert.

Die Anlässe für solche Stör-und Unfälle sind meist recht trivial: einfache Stromausfälle haben schon zu Fast-Katastrophen geführt (wie in der französischen Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague im Jahr 1980). Und das „berühmte“ menschliche Versagen kann ja überhaupt schwer beherrscht werden...

Stellt sich am Schluß die Frage: Sind wir bereit, diesen Preis für den „Fortschritt“ in der Atomindustrie zu bezahlen?

Der Autor ist Physiker und Mitglied der Initiative „Naturwissenschaftler(innen) gegen die WAA Wackersdorf“.

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