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Atomwaffenfreie Zone Skandinavien: Kein Alleingang der NATO-Nordflanke
Der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnjew hat Bewegung in eine alte Diskussion gebracht. Seit er in einem Interview mit der finnischen sozialdemokratischen Parteizeitung orakelhaft andeutete, die Sowjetunion könnte bereit sein, sich mit eigenen Gebieten und eigenen Waffen an einer „atomwaffenfreien Zone“ in Nordeuropa zu beteiligen, verstummen die Debatten übereine Friedenszone Skandinavien nicht mehr.
Was früher einmal als Sondereinlage des finnischen Präsidenten Urho Kekkonen galt, hat plötzlich Gewicht bekommen. Die Form freilich ist leicht verändert. Kekkonen hat vor Jahren schon vorgeschlagen, die nordeuropäischen Staaten sollten ihr Territorium zur atomwaffenfreien Zone erklären.
Da weder in den neutralen Ländern Schweden und Finnland noch in den NATO-Staaten Dänemark und Norwegen in Friedenszeiten Atomwaffen plaziert sind, mußte dieser Vorschlag bedeuten, daß Nordeuropa aus eigenen Stücken darauf verzichten solle, auch für den Kriegsfall die Möglichkeit einer Nuklearverteidigung einzukalkulieren.
Das war für die NATO-Mitglieder in Nordeuropa unakzeptabel und auch Schweden war skeptisch.
Der Haupteinwand: Skandinavien hätte von der Sowjetunion, dem mächtigen Nachbarn im Osten, für den Nuklearverzicht nichts anderes zu erwarten als eine verbale Garantie, die atomwaffenfreie Zone gegebenenfalls respektieren zu w 'len. Das war den Nordeuropäern denn doch zu wenig.
Als nun die Friedenszone im norwegischen Wahlkampf wieder auftauchte und von der sozialdemokratischen Regierungspartei ins Parteiprogramm gehievt wurde, geschah dies mit einem wichtigen Zusatz: Der atomwaffenfreie Norden sollte Teil einer breiteren europäischen Abrüstungslösung werden.
Gemeint war damit, daß auch die Sowjetunion bereit sein müßte, zur Bremse der Rüstungsspirale beizutragen, sind doch die einzigen Atomwaffen, die sich derzeit im Bereich Nordeuropa finden, die sowjetischen Raketen- und U-Boot-Arsenale auf der Halbinsel Kola und in der Ostsee.
Glaubte man zunächst, Norwegens Sozialdemokraten hätten mit dieser Formel nichts anderes gefunden als eine Formulierung, die die Friedenskräfte in der eigenen Partei neutralisieren konnte, ohne die NATO zu beunruhigen, so änderte sich diese Einschätzung, als Leonid Breschnjew völlig überraschend in seinem inzwischen sattsam bekanntgewordenen Interview Gesprächsbereitschaft signalisierte.
Nun erwachten auch die Alliierten Norwegens und Dänemarks. Norwegische Regierungsmitglieder mußten sich in Washington, Bonn und London barsche Kritik für ihre Friedensideen gefallen lassen und versicherten, daß sie nie daran gedacht hätten, gegen den Willen der NATO mit der UdSSR zu verhandeln. Im Gegenteil: In NATO-Regie sollten die Gespräche geführt werden. Aber aufgegeben hatten Skandinaviens Regierungen ihren Wunsch nach einer atomwaffenfreien Zone nicht.
Wenn zuletzt die sowjetische Nachrichtenagentur „Nowosti“ erklärend feststellte, die Sowjetunion dächte nicht daran, im Gegenzug gegen die Deklarierung Skandinaviens als atomwaffenfrei ihr Afomarsenal von Kola abzuziehen, dann bedeutet das nicht - wie es vielfach aufgefaßt wurde -, daß die sowjetische Gesprächsbereitschaft erloschen wäre. Man muß hier differenzieren.
Auf Kola unterhält die Sowjetunion eine Waffenkonzentration wie nirgends sonst. Bei Murmansk, dem einzigen eisfreien Nordhafen der UdSSR, liegen 70 Prozent der atombewaffneten U-
Boote. Hier sind strategische Waffen aufgestellt, die ins globale Machtgleichgewicht zwischen den Supermächten eingehen.
Niemand kann erwarten, daß die So- wjetunion diese Waffen abziehen würde, um sich das vergleichsweise wenig interessante atomwaffenfreie Skandinavien einzuhandeln.
Auf Kola sind aber auch Kurz- und Mittelstreckenraketen stationiert, die auf Nordeuropa gerichtet sind. Um diese Waffen geht es den Skandinaviern bei ihren Verhandlungen über eine Friedenszone. Und dieses Modell einer „Waffenverdünnung“ ist auch für den Kreml noch aktuell.
Das kann man als taktischen Schachzug ansehen. Schließlich verlieren die Kola-Kurzstreckenraketen an Bedeutung, wenn durch die Aufstellung der SS-20-Mittelstreckenwaffen ganz Europa bis zum Nordkap „abgedeckt“ werden kann. Deshalb weisen die in diesen Fragen sehr realistischen nordischen Regierungen auch auf diese neue Gefahr hin.
Man kann sicher sein, daß sie einem atomwaffenfreien Norden nicht zustimmen werden, ehedie amerikanischsowjetischen Verhandlungen über eine Reduzierung der eurostrategischen Waffen zu Resultaten geführt haben. Die nordische Friedenszone ist so von den globalen Abrüstungsgesprächen nicht zu trennen - und die Angst vor einem Alleingang der NATO-Nord- flanke, die anscheinend in mancher NATO-Hauptstadt herrscht, erscheint reichlich übertrieben.
Daß freilich die Diskussion übereine Zone - die in der NATO-Atomstrate- gie keine Gültigkeit haben soll - gerade in zwei NATO-Ländern wieder laut wurde, ist kein Zufall. Man kann - und dies wird auch häufig getan - Wühlarbeit des KGB dahinter vermuten. Man kann aber auch seinen Blick um 180
Grad wenden und die Gründe im Westen suchen. Man wird damit der Wahrheit näher kommen.
Ein Volk wie die Norweger, das stets mit ganz klaren Mehrheiten für die NATO-Mitgliedschaft eingetreten ist, wird nicht von heute auf morgen kremlhörig. Zwei Drittel der Norweger aber, zeigt eine jüngste Meinungsumfrage, wünschen sich die Verankerung der Atomwaffenfreiheit in ihrer Region.
Warum?
Weil sie Angst haben.
Seit die Möglichkeit von lokal begrenzten Atomkriegen besprochen wird, seit man in militärischen Kreisen ernsthaft darüber diskutiert, ob ein Atomkrieg gewonnen werden kann, sind die Menschen hellhörig geworden. Das war nicht gemeint, als sie sich unter das Schutzschild einer Atommacht stellten.
Wenn Washington eine Position der Stärke anstrebt, dann fühlen sich jene besonders schwach, die Grenze an Grenze zur anderen Atom-Supermacht leben. Die Norweger etwa.
Unter dem Druck der Friedensbewegung von der Basis haben Nordeuropas Regierungen deren Forderungen zu einem gewissen Grad zu den ihren gemacht. Die emotionelle Atomangst von Millionen Menschen ist zu einer realistischen Größe der Politik geworden, und auch die USA werden künftig nicht umhin können, diese Größe einzukalkulieren.
Die USA haben den Schlüssel in der Hand, die unerwünschten selbständigen Ideen der Alliierten zu bremsen. Sie müssen nur den Menschen in den befreundeten Staaten das Gefühl zurückgeben, daß die Führungsmacht der westlichen Welt jene Macht ist, die wirklich den Frieden will. Der Glauben daran ist derzeit mancherorts erschüttert.
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