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Auch der Kommunismus hat keine Endlösung anzubieten

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„Vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen, sind die italienischen Gemeinden nichts als Unternehmen, die errichtet wurden, um Verluste zu erleiden.” Der so sprach, ist kein Witzbold, auch kein „Schmähtandler”, sondern der stellvertretende Bürgermeister von Palermo, Salvatore Gua- dagno. Er wollte kein Bonmot prägen. Er sagte es mit todernstem Gesicht- so ernst, wie ein Italiener nur in die Welt blicken kann. Und für seinen kategorischen Satz bot er auch eine stichhaltige Begründung: „Rom, das heißt, der italienische Staat, delegiert an die Gemeinden so viele Aufgaben, die diese gar nicht erfüllen können: Sie müssen Straßen bauen, Zonen erschließen, Schulhäuser unterhalten, Lehrer, Polizisten, Buschauffeure und ein Heer von Beamten bezahlen. Aus den eigenen Einkünften können sie das nicht tun, die reichen höchstens zur Dek- kung von zehn Prozent der Spesen. So verschulden sie sich denn bei den Banken, müssen sich im Auftrag des Staates und zum Wohl der Bürger verschulden.”

Im Fall der sizilianischen Kapitale ist das Mißverhältnis besonders kraß: 32 Milliarden Lire .an Einkünften stehen 360 Milliarden Lire Ausgaben gegenüber. Unter solchen Vorzeichen wächst das Defizit von Monat zu Monat ins Uferlose. Da die Beamten - wenigstens sie - am 27. jedes Monates pünktlich bezahlt werden wollen, ansonsten sie das municipio, das Rathaus, stürmen, können die Stadtväter nicht warten, bis Rom ihnen die erforderliche Summe überweist. So wenden sie sich in ihrer Not vertrauensvoll an die Banken, die in Italien bekanntlich zum größten Teil verstaatlicht sind, richtiger gesagt: einem halbstaatlichen Betrieb wie der IRI oder ENI unterstehen. Für gewöhnlich lassen sich diese Kreditinstitute im Falle der Gemeinden nicht lange bitten. Wer möchte sich ein solches Geschäft entgehen lassen! Die Banken erhalten von den Ger meinden 20 bis 28 Prozent Zinsen. Als Schuldner zahlt der italienische Staat den Gemeinden jedoch nur acht bis zehn Prozent. Die Differenz der beiden Zinsbeträge vergrößert das kommunale Defizit… und die Abhängigkeit der Gemeinden und Banken vom Staat!

Unter solchen Vorzeichen verbringen die Väter der italienischen Gemeinden die meiste Zeit auf der Suche nach „fondi”, nach Geldquellen, die wenigstens anjedem 27. Monatstag die Löcher stopfen und damit die lokale Revolution verhüten sollen. Woher die Regierung in Rom all die Millionen nimmt, kümmert die Bürgermeister wenig.

Wie groß aber die damit verbundenen Sorgen der Regierung sind, hat Ministerpräsident Andreotti beim Verlesen des Regierungsprogrammes in seiner persönlichen Art, also lakonisch, zum Besten gegeben. Es sei zu hoffen, sagte er, daß der italienische Staat die Gehälter der Gemeindeangestellten noch bis zum Jahresende auszahlen könne. Und dann richtete er seinen Blick gegen den Himmel und sagte trocken: „E poi viene gennaio - Und dann kommt der Jänner”. Was nördlich der Alpen auf Stimerunzeln und Kopfschütteln gestoßen wäre, erregte im Halbkreis des Montecitorio von rechts bis links Gelächter.

Wo keine Aussicht mehr besteht, die Schulden zu tilgen, wo die Zinslasten nur noch buchhalterisch zum Verschwinden gebracht werden können, spielt es keine Rolle mehr, ob das Defizit Millionen- oder Milliardenhöhe erreicht.

Da Italien so etwas wie eine Demokratie ist, können die Stadtväter nach ihrem Einzug ins municipio nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, sie müssen - wenigstens alle vier bis fünf Jahre - um ihre Wiederwahl bangen. Um im Amt verbleiben zu können, haben sie die Fähigkeit unter Beweis zu stellen, Verwandte, Freunde und passende Bittsteller mit Pfründen zu versehen oder sie sonst irgendwie für ihre Dienste bei früheren oder kommenden Urnengängen abzufinden.

Genial und erstaunlich ehrlich war das Vorgehen des früheren Bürgermeisters von Neapel, Achille Lauro. In Elendsquartieren, wo seine Wiederwahl als Kandidat der Monarchistischen Partei nicht mehr so sicher war wie vor Jahrzehnten, ließ er den Sympathisanten der Kommunisten vor den Wahlen lauter linke Schuhe schenken. Zugleich versprach er den Möchtegern-Genossen, nach seiner Bestätigung im Amt den rechten Schuh nach- zuliefem.

Dieses Vorgehen war durchaus solid und vertretbar, weil es Lauro selbst finanzierte, und zwar aus den Einkünften seiner damals noch rentablen Schiffahrtsgesellschaft „Italia”. Die christdemokratischen Stadtherren, die Lauro ablösten, können ihre Wiederwahl nicht mehr aus eigenen Mitteln bestreiten. Für sie gab es nur noch buchhalterische Kunstgriffe. Uber die immer größere Verschuldung gegenüber den Banken und dem italienischen Staat versuchten sie, auf bequemere Art zu erreichen, was Lauro aus seinem eigenen lukrativen Unternehmen pumpen mußte.

Die meisten Beamtenstellen, vom Abteilungsleiter eines Ministeriums bis zum Türwächter, werden auf dem Wettbewerbsweg, über sogenannte concorsi, errungen. Hiefür melden sich viele, im Mezzogiomo alle, doch gewinnen kann das Rennen nur der Schützling eines Notablen über rac- comandazioni, über Empfehlungen. Daß auf diese Weise die democrazia zu einer sprezzocrazia (Vergeudungsherrschaft) entartet, versteht sich von selbst. Die Einnahmen durch Gebühren für die öffentlichen Dienste (Verkehrsmittel, Gas, Wasser, Elektrizität) reichen oft nicht einmal zur Hälfte für die Deckung der Löhne und Gehälter. Die Absenzrate der Beamten übersteigt da und dort 20 Prozent - kein Wunder, haben doch viele eine lukrativere Nebenbeschäftigung. Nur wo private Unternehmen die Milchzentralen führen, können die Milliardendefizite noch verhütet und die Milchprodukte billig an die Konsumenten abgegeben werden.

In Palermo arbeiten von 2100 Stra- ßenputzem nur ungefähr hundert. Mancher verpachtet sein Amt an Arbeitslose, die zugleich für ihn arbeiten und Arbeitslosenunterstützung beziehen.

Vielfach wird behauptet, das sei alles ganz anders im roten Mittelitalien, wo Kommunisten und Linkssozialisten seit Jahrzehnten die Regional-, Provinz- und Gemeindeverwaltungen stellen. Tatsächlich ist es auch um vieles in den roten Hochburgen besser bestellt als im nach wie vor christdemokratisch verwalteten Italien. In Bologna gibt es Kinderkrippen, Kindergärten, Spitäler, Quartiersräte und andere soziale Einrichtungen wie kaum in einer anderen Stadt. Da kann man sogar zu manchen Tageszeiten die städtischen Autobusse kostenlos benützen. In den pompösen Kongreßgebäuden für die Werktätigen funktioniert zu allem Überfluß sogar das Telephon. Die Toiletten sind so sauber wie m der Schweiz. Zweifellos ist Bologna das kommunistische Aushängeschild, mehr als Modena, Reggio Emilia, Florenz oder Perugia.

Wer näher zusieht, entdeckt allerdings, daß auch in Bologna die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Stadt weist ein besonders hohes Defizit aus. Bei einer fünfmal kleineren Bevölkerungszahl ist der Schuldenberg der aemilianischen Hauptstadt nur um die Hälfte kleiner als jener Roms. Und Rom hat bekanntlich mit seinem 5000-Milliarden-Defizit unter allen defizitären italienischen Ge meinden die Goldmedaille für kommunale Verschuldung errungen.

Aber bei weitem gehen nicht alle Übel auf das Konto der langjährigen christdemokratischen Stadtverwaltung auf dem Kapitol. Weitgehend ist es sogar das Ergebnis ihrer mindestens teilweise sehr erfolgreichen Regierungsführung in den fünfziger und sechziger Jahren, daß es damals eine Art von italienischem Wirtschaftswunder gab. Der ökonomische Fortschritt war allerdings nicht von sozialem Fortschritt begleitet. Zum Teil entwickelte sich die Wirtschaft sogar unter der Voraussetzung der hintangehaltenen Strukturreformen. Das Wirtschaftswachstum hatte zudem eine ungeheure Landflucht und die entsprechende soziale Mobilität der Fremdarbeiterströme von Süditalien nach den nördlichen Großstädten und der Poebene zur Folge.

Was die Italiener ihrer Vergangenheit schulden, ist in Venetien, in Friaul und im Trentino leicht festzustellen. Hier herrschten bekanntlich die Habsburger und sie hinterließen einen Verwaltungsapparat, der fortschrittlich, flexibel und human war. Das Ergebnis für Nordostitalien ist eine Bürokratie und ist ein Staatsverständnis, die sich beide - gemessen an südlichen Maßstäben - sehen lassen dürfen.

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