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Auch er hat nichts gewußt

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Er hat den Untergang des Kapitalismus immer wieder vorausgesagt und prophezeit heute, daß die Wiedervereinigung Deutschlands zur wirtschaftlichen Katastrophe der ehemaligen DDR führt und daß Deutschland in hundert Jahren sozialistisch sein wird: Jürgen Kuczynski, Jahrgang 1904, renommierter SED-Wirtschaftswissenschaftler, der durch sechs Jahrzehnte seiner KP gedient hat. Zwar hatte er Ulbricht und Honecker gelegentlich kritisiert, aber nie seine bevorzugte Stellung bei Hofe in Ostberlin riskiert.

Er ist ein kostbares Exponat für jenes Museum des Marxismus, an dem in Wien so manche Nostalgiker bauen. Zum Beispiel die Wissenschafts-Redaktion des ORF-Hörfunks, die dem „linientreuen Dissidenten" (eigene Einschätzung) nun ein vierteiliges Porträt widmete. Nicht etwa kritisch, sondern artig und mit Respekt stellte die junge Dame, die zu ihm entsandt wurde, ihre Fragen, ließ

sich durch seine Bibliothek mit 60.000 Bänden führen, samt Fichte- und Heine-Erstausgaben und einer Aktie mit der Unterschrift des Ministers Goethe.

Von den Verbrechen Stalins hat er nie erfahren, die Leute, die dem Gulag entronnen waren, hätten geschwiegen, weil sie immer noch glaubten, daß für die Sache kein Opfer zu groß gewesen sei. Von Abtrünnigen wie George Orwell oder Arthur Koestler hat Kuczynski nie etwas gehört. Seine Stasi-Akten hat er nur aus den Jahren 1947 bis 1955 gefunden, aus einer Zeit, da er noch als Agent des Westens verdächtigt wurde: „Die Stasi-Akten sind völlig blöde."

Natürlich bleibt ein berühmter Mann auch dann berühmt, wenn er sich in seinem langen Leben oft geirrt, wenn er zu vielen Verbrechen geschwiegen hat. Aber einen Heiligenschein braucht er nicht. Vielleicht sollten doch öfter auch Menschen zu Wort kommen, die den großen politischen Theoretikern Jahrzehnte hindurch als Versuchskaninchen dienten.

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