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Auch rote Reiche werden immer reicher

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In Osteuropa spielt die Praxis oft alle Theorie und Parteiideologie an die Wand. Krassester und kuriosester Auswuchs der stark reglementierten Wirtschaftsentwicklung ist es, daß auch die roten Reichen reicher und die roten Armen ärmer geworden sind. Unter „Reichen“ darf man sich jedoch nicht kapitalistische Bankiers oder sonstige Millionäre vorstellen. Ein tüchtiger Handwerker kann ebenfalls reich werden, nicht nur der Erfinder, der Chefingenieur, der Manager oder der staatliche Handelsreisende, der im Ausland die diskreten Prozente für gewöhnlich nicht verschmäht.

Dazu kam noch — wie in westlichen Ländern —, daß die Löhne langsamer erhöht wurden als die unaufhaltsam steigenden Preise. Die internationale Inflation, die keine Staatsgrenzen kennt, sorgte dafür, daß die Kaufkraft der Löhne in Sowjeteuropa ebenso sank wie in westlichen Ländern. Die Gewinne hat man „progressiv“ verteilt. Das Resultat? Die Prämie des Werktätigen, die er außer seiner normalen Bezahlung im Falle des Erfolgs erhält, ist nur ein winziger Bruchteil von dem, was der Betriebsmanager sich selber auszahlen läßt. Infolgedessen besitzt die „neue Klasse“ alles, wofür zu leben auch in einer Volksdemokratie wert ist: eine schöne Wohnung, ein

Landhaus, ein Privatautomobil, Auslandsreisen. Viele erstklassige Facharbeiter verdienen im ganzen Jahr nicht soviel wie der Genosse Manager für den Nerzmantel seiner Frau vor Weihnachten bezahlt hat. Die „neue Klasse“ lebt in größerem Luxus als die „Kapitalisten“.

In Ungarn sind märchenhafte Vermögen während der vergangenen Jahre entstanden. Im Dezember 1971 mußte der Ministerrat eingreifen und Maßnahmen beschließen, um die exorbitanten Einnahmen gewisser Leute zu regulieren und, wenn möglich, zu verhindern. 1972 sollen „Dämme erbaut“ werden. Das Regierungsblatt „Magyar Hirlap“ schrieb: „Wir dulden es nicht länger!“ Ein erster Schritt hiezu war die neue Steuerverordnung, von der in erster Linie — merkwürdig genug — die „selbständigen geistigen Berufe“ betroffen sind, gefolgt von den privaten kleinen Handwerkern und Händlern. Regimetreue Künstler und Schriftsteller können vorläufig unbegrenzt weiterverdienen.

Die ungarische Wirtschaftspolitik und die darauf beruhende Praxis ist mit denen der anderen „sozialistischen Länder“ nicht identisch, wenn auch gemeinsame Züge vorhanden sind.

Privates Kleinhandwerk und der Kleinhandel werden in Jugoslawien, Ungarn und Polen am liberalsten behandelt. In Polen gibt es derzeit 70.000 Privatunternehmer: Wirte, Fleischhauer, Gemischtwaren- und Gemüsehändler. Sie bezahlen entweder eine fixe Miete oder eine prozentual festgesetzte Summe dem Staat für Benützung der Geschäftsräume. Außerdem sind in Polen

180.000 private Kleinhandwerker mit 350.000 Angestellten registriert.

In Ostdeutschland kann man nur nebenberuflich auf Privatrechnung arbeiten. Der Facharbeiter einer Fabrik darf in seinen Mußestunden Reparaturarbeiten als Elektriker, Radio- und Automonteur oder als Fernsehfachmann ausführen.

' In der CSSR hinwiederum ist jede . Art von privater Tätigkeit unterbunden. Es gibt weder Privathändler i noch Kleinhandwerker.

Auch Rumänien und Bulgarien dulden prinzipiell keine privatwirt-i schaftlichen Unternehmen. Dennoch • werden gewisse Ausnahmen bewil-i ligt: In Sofia und Bukarest dürfen

Kleinhandwerker auf eigene Rechnung arbeiten, wenn sie wichtige Dienstleistungen verrichten. In den Badeorten an der Schwarzmeerküste sind sowohl rumänische als auch bulgarische Kleinhändler und Handwerker im Interesse des Fremdenverkehrs zugelassen. Sogar private Pensionen gibt es an der Küste.

In Ungarn besitzen derzeit 90.000 Handwerker und Kaufleute Konzessionen — und sie sind sehr tüchtig. Nichts beweist, dies deutlicher als die neue Steuerverordnung. Vorrang haben dabei gewisse unbedingt notwendige Dienstleistungen.

Im ganzen Osteuropa sind etwa 14 Millionen private Kleinunternehmer registriert. Davon machen die Kleinlandwirte 25 Prozent aus. Im Pro-Kopf-Nationaleinkommen steht Ostdeutschland mit 2179 Dollar an der Spitze, gefolgt von der Tschechoslowakei mit 2024. Auf dem dritten Platz steht Ungarn mit 1456, auf dem vierten Polen mit 1335, auf dem fünften Bulgarien mit 1024. Jugoslawien ist mit 683 Dollar das Schlußlicht dieser Kolonne. Hier verderben die rückständigen südöstlichen Republiken die guten Ergebnisse Kroatiens und Sloweniens. Darauf sind die gegenwärtigen inneren Spannungen zurückzuführen. Eine Million jugoslawischer Arbeiter hat das Land verlassen, um ihr Brot im Westen zu verdienen. Diese Arbeiter sind vorsichtig geworden. Sie überweisen zwar 100 Millionen Dollar jährlich in die Heimat, sie besitzen jedoch in westlichen Geldinstituten mehr als 600 Millionen an Bankguthaben.

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