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Auf dem letzten heilen Bauernhof
Der Anblick war für die herrschenden Verhältnisse erstaunlich. Die Aufmerksamkeit der beiden richtete sich sofort auf das Ungewöhnlichste im Raum: In der Fensterecke des Zimmers und unter einem Tontopf mit frischen Blumen hing ein schwarzes Holzkreuz, an dem ein kleines, aus Eisen gefertigtes Abbild eines fast unbekleideten Mannes mit ausgestreckten Armen angenagelt war.
„Das Gespräch mit dem Vorsteher!“
Josef nickte bloß und blickte wieder um sich.
„Jahrhunderte hindurch hat sich hier nichts verändert.“
Neben der Tür bei den Fenstern stand ein uralter, sicherlich sehr schwerer Holztisch, rundum Bänke und Stühle. An der Wand hing eine unregelmäßig durchlöcherte Holzscheibe, auf der eben noch zu erkennen war, daß man darauf einst in bunten Farben grasendes Wild gemalt hatte und von der Josef wußte, daß so etwas einst für ländliche Schießübungen verwendet worden war. Darunter stand ein Kästchen mit vielen Laden, daneben eine Truhe, drüben ein Kasten, und alles trug Spuren einstiger Bemalung. Gegenüber gab es Bretter, auf welchen alte, hübsch bemalte Tonteller aufgestellt waren.
Maria ging hin, um den größten Teller in der Mitte des obersten Faches genauer anzusehen. Getreide erntende Bauern waren ab-gebüdet. Mühsam entzifferte sie die altertümliche Schrift.
„Gib uns heute unser tägliches Brot“, las sie anschließend. „Da ist also nun tatsächlich die Zeit stehengeblieben!“
„Nein!“ Josef klang schroff und ablehnend. „Auch hier läuft sie aus, und zwar ebenso rasch wie überall. Daß es da noch einige nutzlose Dinge gibt ist das einzige, das diesen Ort von anderen unterscheidet.“
„Sie haben recht“, sagte der Bauer Gottfried, der eben eingetreten war und Josef gehört hatte.
„Wir sind die letzten auf diesem Anwesen. Weit und breit gibt es keine anderen Bauern. Unten im Ort leben bloß einige Wilde, und das scheint alles zu sein im ganzen Land.“
Bald kam einer der jüngeren Brüder des Bauern mit einem Krug, nach ihm der andere mit Bechern, und knapp danach die Alten. Der Aufforderung Gottfrieds entsprechend, nahmen alle um den Tisch Platz. Der Bauer goß die Becher voll.
„Zum Wohl.“
Alle tranken.
„Obstwein“, flüsterte Maria.
Als Josef von den Verhältnissen in der Hauptstadt berichtet hatte, begann die alte Bäuerin zu sprechen: „Die Menschen haben es wahrscheinlich nicht anders verdient, aber wir sind hier am Berg ein Teil der Natur geblieben. Deshalb wird uns der Herr einst erlösen.“
Maria und Josef schauten sie erstaunt, an. Alle anderen nickten zustimmend. Dann stand Gottfried auf.
„Wir gehen an unsere Arbeit“, wandte er sich seiner Familie zu. „Unsere Gäste werden bis zum Abend ruhen wollen.“
Ohne ein weiteres Wort verließen die fünf Leute die Stube. Maria und Nemesis waren allein.
Maria war wütend. „Ein Feudalherr ist der! Ein Tyrann! Ein Patriarch!“
„War das nicht immer so?“ nickte Josef, aber im Gegensatz zur aufgebrachten Freundin war er niedergeschlagen und traurig. „Wenn Menschen heutzutage nicht als Einzelgänger leben, ist es doch durchwegs einer, der befiehlt.“
„Und wir zwei?“ Marias Wut war rasch und deutlich in Verzweiflung übergegangen.
„Wir sind die Ausnahme“, sagte Josef schnell und ohne viel zu überlegen. „Wir sind die Kuriosität dieser Endzeit. Wir heben einander.“
„Du meinst, daß der Bauer Gottfried seine Eltern und Brüder nicht hebt?“
„Wahrscheinlich liebt er sie. Aber die Liebe des Bauern zu seinen Leuten ist nicht meine Liebe. Sie ist nicht das, was ich unter Liebe verstehe, weil der liebt, wie das eben einmal üblich war und wie man früher durch Jahrtausende liebte. Bis in unsere Endzeit hinein mußten Liebende einander besitzen, um lieben zu können. Du siehst es doch. Der Bauer liebt seine Eltern und Brüder. Aber er besitzt sie auch. Und umgekehrt gilt das ebenso. Die können nicht hinaus. Jeder besitzt Liebe, als ob sie ein Gegenstand wäre. Die vier Leute haben die Liebe des Bauern und er hat die ihre. Alles stimmt und ist auf eine natürliche Art richtig und unausweichlich.“
„Bei uns ist das anders, meinst du.“
„Ja. Weil einer den anderen in Freiheit liebt und ihn nicht als Besitz haben will.“
Aus dem Roman „Am Ende der Hoffnung beginnen die Wege“, der demnächst im Otto Muller Verlag, Salzburg, erscheint.
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