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Auf der Suche nach der Mitte

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50 Kilometer vom bosnischen Kriegsschauplatz entfernt, im slowenischen Kurort Dolenjske Toplice, machten sich etwa 100 Publizisten aus Mitteleuropa an eine Bilanz der Wende von 1989: Die Mitte Europas ist zwar wiedererstanden, in ihr herrscht jedoch eine „moralische Verwüstung" (dazu auch Seite 2).

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50 Kilometer vom bosnischen Kriegsschauplatz entfernt, im slowenischen Kurort Dolenjske Toplice, machten sich etwa 100 Publizisten aus Mitteleuropa an eine Bilanz der Wende von 1989: Die Mitte Europas ist zwar wiedererstanden, in ihr herrscht jedoch eine „moralische Verwüstung" (dazu auch Seite 2).

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Die geistig-moralisch-politische Grundbefindlichkeit der Reformländer beschrieb der Laibacher Philosoph Anton Stres mit dem Begriff „Tschernobyl der Seelen". Dem. Menschen als jederzeit verwerfbaren Baustein, nicht Träger der Gesellschaft wurde im Kommunismus das moralische Bewußtsein genommen, betonte Stres und wies auf die Folgen hin: Wenig Interesse an öffentlichen Dingen, weiterbestehender Glaube, daß dem einzelnen alles vom Staat gegeben werden muß, der Staat für alles verantwortlich sei, ungenügendes Begreifen-Können des Wesens demokratischer Vorgänge. „Die Menschen sind unfähig, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen."

Für Slowenien konstatierte Stres einen Mangel an katholischen Persönlichkeiten im Erziehungs-, Bil-dungs- und Mediensektor. In den Medien gibt es Gruppen der alten Garde, die um ihre Positionen kämpfen: „Und jene Stellung, die sie nicht demokratisch erhalten haben, verteidigen sie heute mit demokratischen Mitteln/' So herrsche heute mehr Enttäuschung als Freude über die Wende, was nicht nur mit den ökonomischen Schwierigkeiten des bald zwei Jahre alt werdenden slowenischen Staates zu tun habe.

Stres befürchtet zudem ein deutliches Überhandnehmen des Liberalismus, der sich als einzige Weltanschauung geradezu aufdränge und dessen Vertreter auf eine strikte Trennung von Kirche und Staat hinarbeiteten -mit allen Konsequenzen für das Auftreten der Kirche in der Öffentlichkeit (bis hin zum Religionsunterricht).

Konkrete Auswirkungen der Wende für die Süd-Slawen benannte Andrej Smodis, Korrespondent des Bayerischen Rundfunks: Herrn und Frau Normalvebraucher in Slowenien geht es heute wirtschaftlich objektiv schlechter als vor dem Umbruch. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, mit der Privatisierung - so hat Herr Normalverbraucher den Eindruck - geht es nicht ganz sauber voran: die gewendeten kommunistischen Direktoren nutzten schlau ihren Platzvorteil. Auch die demokratischen Wahlen stehen in den Augen des kleinen Mannes nicht gut da: es herrsche Demokratiemüdigkeit, bevor man mit Demokratie noch so richtig begonnen habe.

„Viele verbinden die Wende mit dem Nationalismus." Die schlechtere ökonomische Lage hat einen Fremdenhaß zur Folge und ein Aufkommen nationalistischer Parteien. Kroatien sei überhaupt von einem Nationalstaatstrauma geprägt, „daß in Kroatien mehr als zwölf Prozent Serben leben, darüber hat man großzügig hinweggesehen".

In Serbien gebe es drei Strömungen des Nationalismus, die heute eine unselige Allianz eingegangen sind: der Nationalstaatsgedanke, bei dem

Grenzen keine Rolle spielen („wo ein serbisches Grab, da ist Serbien"), der Milosevid-Nationalismus (Verbindung von Kommunismus und Nationalismus) und der Nationalismus der serbisch-orthodoxen Kirche, weswegen von einer Überwindung des Konfliktes durch den gemeinsamen christlichen Glauben keine Rede sein könne.

Allein die Bosniaken - so Smodis -seien noch auf der Suche nach ihrer Identität, ein „richtiger Nationalismus" habe sich noch nicht breitgemacht. Die Wende in Jugoslawien sei jedenfalls der Beginn des Krieges. „Und im Prinzip müssen wir von einem Erfolg der serbischen Politik sprechen", betonte Smodis und meinte, daß Milosevic 1986/87 aufzuhalten gewesen wäre, als er sämtliche Medien gesäubert und sie seinen Zielen unterworfen hat.

Dieser düsteren Bilanz setzte der slowenische Vizepremier und Außenminister Lojze Peterle noch die Krone auf, als er darauf hinwies, daß es in Slowenien so etwas wie eine „Nostalgie nach dem Sklaventum" gebe -eine in vielen Ländern Osteuropas zu beobachtende Grundhaltung. Es sei für einen Politiker heute nicht sehr einfach, „so wenig attraktive Wahlreden halten zu müssen; er kann nichts versprechen, sondern die Leute nur zu Tüchtigkeit, Geduld und Verant-wortrung aufrufen".

Auf die Frage der FURCHE, ob Slowenien nur mehr die EG vor Augen, sich von der Verantwortung gegenüber den früheren Teilrepubliken aber verabschiedet habe, meinte Peterle etwas vage: „Innerhalb der Grenzen unserer Möglichkeiten möchten wir alles tun, um zum Frieden beizutragen. Slowenien hat eine Initiative im UN-Sicherheitsrat gestartet, wie man den Vance-Owen-Plan implementieren könnte. Wir haben zwar keine besonderen Bindungen mehr, aber gute Kenntnisse und Informationen, sodaß wir Vorschläge machen können, was geschehen sollte." Vor kurzem sei bei Peter-

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