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Auf der Suche nach Geborgenheit

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Eine Untersuchung in Österreich widerlegt Klischeevorstellungen vom Vorherrschen von Promiskuität und von anarchischem Gedankengut. Junge Leute suchen Symbiose von Eigenleben und Gruppenbezug.

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Eine Untersuchung in Österreich widerlegt Klischeevorstellungen vom Vorherrschen von Promiskuität und von anarchischem Gedankengut. Junge Leute suchen Symbiose von Eigenleben und Gruppenbezug.

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Zu den Reizworten auch der achtziger Jahre gehört die Wohngemeinschaft. Zu Unrecht aus zwei Gründen. Einmal, weil die Wohngemeinschaft von heute ihre politische Brisanz eingebüßt hat und insbesondere in Österreich im wesentlichen sogenannten bürgerlichen Normen entspricht. Zum anderen, weil gerade in diesen Wohngemeinschaften Veränderungsversuche unternommen werden, die alle politischen Lager gleichermaßen fordern: Durchbrechung der Isolation des einzelnen, Gemeinschaftsdenken, Offenheit nach außen, Aufbrechung der traditionellen Geschlechterrolle, positive Alternative zur Kleinfamilie und ähnliches mehr.

Von Ausnahmen abgesehen, gehen Vorwürfe in Richtung Kollektivismus, Gruppensex, Bezie-hungslosigkeit, politische Umstürzler, Halt- und Verantwortungslosigkeit weit an der Realität der Wohngemeinschaften vorbei.

Mit einer von der Katholischen Arbeiterjugend durchgeführten

upd vom Unterrichtsministerium geförderten „Projektarbeit

Wohngemeinschaften in Österreich" liegen erstmals Daten vor, die einen Uberblick über die österreichische Wohngemeinschaftssituation und damit eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser neuen Wohn- und Lebensform ermöglichen.

Die Gesamtzahl der Wohngemeinschaften in Österreich kann nur geschätzt werden. Anzunehmen sind etwa tausend, davon allein die Hälfte in Wien; die übrigen konzentrieren sich ebenfalls vorwiegend auf den städtischen Bereich. Zwischen fünf und zehn Prozent der österreichischen Studenten leben dort, die Zahl der Berufstätigen ist erheblich geringer.

In den Wohngemeinschaften, die der KAJ nahestehen — zur Zeit etwa zwanzig in ganz Österreich — überwiegen die Berufstätigen. Auch hinsichtlich der sozialen Herkunft unterscheiden sich Wohngemeinschaftsbewohner der KAJ von den anderen: Bei ihnen kommen die meisten aus Familien, in denen der Vater Arbeiter, kleiner Angestellter oder Landwirt ist.

Woher kommen die Jugendlichen, die in Wohngemeinschaften den Versuch machen wollen, anders zu leben als ihre Eltern? Um ein beliebtes Vorurteil gegen Wohngemeinschaften gleich am Beginn zu widerlegen: Der weitaus größte Teil (über 80 Prozent) stammt aus intakten Familien mit beiden Elternteilen.

Nur rund 16 Prozent lebten bei einem Elternteil oder bei den Großeltern, eine verschwindend kleine Zahl in einem Heim oder Internat. Beweis dafür sind auch die guten Beziehungen und häufigen Kontakte zum Elternhaus.

Mehr als die Hälfte der Eltern akzeptieren die Entscheidung ihrer Kinder für die Wohngemeinschaft, etwa 20 Prozent sind ablehnend, der Rest verhält sich abwartend. Die Kontakte zwischen Eltern und Jugendlichen bestehen in regelmäßigen Besuchen im Elternhaus bzw. Briefen, immerhin haben zwei Drittel der Eltern mindestens einmal- der Wohngemeinschaft einen Besuch abge-

stattet, ein Drittel davon sogar öfter.

Vom Geschlecht her ist die Struktur der Wohngemeinschaftsbewohner mit 52 Prozent männlichen und 48 Prozent weiblichen ziemlich ausgewogen, das Durchschnittsalter beträgt 24 Jahre, die meisten Mitglieder haben zumindest die Matura abgelegt.

Zu den zentralen Kritikpunkten an Wohngemeinschaften gehören ihre angeblich geringe Bestandsdauer und der ständige Wechsel ihrer Bewohner. Zweifellos spielt es eine Rolle, daß Studentenwohngemeinschaften von vornherein auf den Studienzeitraum begrenzt bleiben hzw. Bewohner nach Abschluß ihres Studiums die Wohngemeinschaft verlassen.

Daß die Zahl der Berufstätigen, aber auch der Paare mit Kindern noch sehr gering ist, erschwert eine klare Beurteilung. Die Bestandsdauer schwankte zum Zeitpunkt der Befragung zwischen Neugründung, wenigen Monaten bis zu mehr als drei Jahren. In rund einem Drittel wohnten alle seit Gründung der Wohngemeinschaft zusammen, in einem weiteren Drittel war es noch die Hälfte, im letzten Drittel wechselten die Bewohner häufig.

Kaum Konflikte mit Eltern

Was veranlaßt nun Jugendliche, eine Wohngemeinschaft gegen ein intaktes Elternhaus einzutauschen? Als unmittelbare Anlässe führten die Befragten überwiegend unbefriedigende Wohnverhältnisse, gefühlsmäßige Beziehungen zu Wohngemeinschaftsbewohnern und den notwendigen Wohnortswechsel aus Berufs- oder Ausbildungsgründen an; Konflikte mit den Eltern spielten nur vereinzelt eine Rolle.

Die allgemeinen Motive für den Einzug in eine Wohngemeinschaft liegen jedoch viel tiefer. Da werden vor allem die Uberwindung der Isolation und der Wunsch nach persönlichen Beziehungen genannt, die Ablehnung der anerzogenen Rolle als Frau oder Mann, der Wunsch nach persönlicher Entfaltung, Eigenleben, Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die Suche nach Geborgenheit in einer Gruppe, aber auch wirtschaftliche Vorteile durch geringeren Geld- und Arbeitsaufwand.

Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil sind politisch engagierte oder aktive Wohngemeinschaften selten geworden. Wohl sind Mitglieder einer Wohngemeinschaft politisch interessierter oder engagierter als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen; politische Aktivität erfolgt jedoch im allgemeinen in Form individueller Betätigung der einzelnen Bewohner. Allge-

mein gilt, daß sich Wohngemeinschaftsmitglieder kaum in etablierten Organisationen einsetzen, sondern eher in „alternativen", „grünen" und sozial engagierten Gruppen.

Leben die jungen Menschen in den Wohngemeinschaften nun wirklich anders als ihre Eltern? Brechen sie tatsächlich mit jeder Tradition und allen Tabus? Bestenfalls in Ansätzen.

Wie alle Jugendlichen und Erwachsenen schätzen sie ihren eigenen Raum, in den sie sich ungestört zurückziehen können. Der weitaus größte Teil lebt — verheiratet oder nicht — in festen, monogamen Paarbeziehungen. Wichtiger als wechselnde sexuelle Kontakte sind den Wohngemeinschaftsbewohnern offene, herzliche Gefühlsbindungen. In zwei Drittel der Wohngemeinschaften verbringen die Bewohner'Abende oder Wochenenden gemeinsam.

Die Regelungen der Finanzen erfolgt überwiegend „paritätisch". Nur bei der Miete versuchen manche Wohngemeinschaften, den Anteil nach dem Einkommen der einzelnen Bewohner aufzuschlüsseln; ähnliche Versuche gibt es, die Haushaltskosten nach Verbrauch bzw. Inanspruchnahme aufzuteilen.

Vor allem die „unangenehmen" Hausarbeiten wie Zusammenräumen, Abwaschen, Kochen und Einkaufen sind meistens streng geregelt und auf alle Bewohner — männlich und weiblich — verteilt. Besonders stark geregelt sind diese Arbeiten dort, wo in der Wohngemeinschaft auch Kinder leben.

Soziale Motivation

Wie überall im Zusammenleben, führt jedoch gerade die Organisation des Haushaltes immer wieder zu Konflikten. Vor allem unterschiedliche Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen sind dafür die Ursache. |

In manchen Bereichen gelingt es aber auch in Wohngemeinschaften nicht, die traditionell geschlechtsspezifische Rollenverteilung wirklich abzubauen: Wäschewaschen und Zusammenräumen lasten sehr oft noch überwiegend auf den weiblichen Bewohnern, während die Durchführung technischer Arbeiten weitgehend eine Domäne der Männer geblieben ist.

Charakteristisch für viele Wohngemeinschaften ist ihre Offenheit gegenüber den Freunden und Bekannten aller Bewohner. Dazu gehört auch, daß junge Menschen in Notsituationen (Strafentlassene, entlassene Patienten aus einer psychiatrischen Anstalt, Gastarbeiter ohne Wohnung beispielsweise) zumindest kurzfristig Aufnahme finden. Soziale Verpflichtung sowohl der Wohngemeinschaft selbst wie auch der Umwelt gegenüber sind deutlich stärker ausgeprägt als beim Durchschnitt der österreichischen Jugendlichen.

Weniger erfreulich laufen Kontakte der Wohngemeinschaft mit der Nachbarschaft. Meistens bestehen gar keine oder mißtrauische, gespannte Beziehungen. Etwas konfliktfreier gestalten sich die Kontakte der KAJ-nahen Wohngemeinschaften. Durch ihre Aktivitäten vor allem im lokalen Kirchenbereich gelingt KAJ-lern oft der Zugang zur Nachbarschaft, auch im kleinstädtischen und ländlichen Bereich.

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