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Auf der Suche nach Sinn

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Im Jahre 1927 wurde ein junger Psychiater auf Alfred Adlers persönlichen Wunsch aus der Gesellschaft für Individualpsycho-logie ausgeschlossen, weil er begonnen hatte, als Grundlage seiner zukünftigen Therapie ein Menschenbild zu entwerfen, das sich nicht mehr mit den bis dahin herrschenden Vorstellungen vom Wesen des Menschen zur Deckung bringen ließ. Der Mann hieß Viktor Frankl, Jahrgang 1905, geboren in Wien, Arzt und Philosoph, Schöpfer der Logotherapie, der Psychotherapie vom Geist her, begeisterter und erfolgreicher Bergsteiger, Organisator der ersten Jugendberatungsstellen im Wien der zwanziger Jahre, später Häftling in Theresienstadt, Auschwitz, Dachau-Kaufering und Dachau-Türkheim, Autor von 20 Büchern mit Millionenauflagen, seit 1955 Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, seit 1970 Professor für Logotherapie an der International University in San Diego (Kalifornien); verheiratet, Vater einer Tochter, zweifacher Großvater.

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Im Jahre 1927 wurde ein junger Psychiater auf Alfred Adlers persönlichen Wunsch aus der Gesellschaft für Individualpsycho-logie ausgeschlossen, weil er begonnen hatte, als Grundlage seiner zukünftigen Therapie ein Menschenbild zu entwerfen, das sich nicht mehr mit den bis dahin herrschenden Vorstellungen vom Wesen des Menschen zur Deckung bringen ließ. Der Mann hieß Viktor Frankl, Jahrgang 1905, geboren in Wien, Arzt und Philosoph, Schöpfer der Logotherapie, der Psychotherapie vom Geist her, begeisterter und erfolgreicher Bergsteiger, Organisator der ersten Jugendberatungsstellen im Wien der zwanziger Jahre, später Häftling in Theresienstadt, Auschwitz, Dachau-Kaufering und Dachau-Türkheim, Autor von 20 Büchern mit Millionenauflagen, seit 1955 Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, seit 1970 Professor für Logotherapie an der International University in San Diego (Kalifornien); verheiratet, Vater einer Tochter, zweifacher Großvater.

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Frankls Hauptanliegen: „Der unbedingte Mensch.“ Er selbst ein Mensch,'der nur Freunde oder Gegner hat, dem nie Gleichgültigkeit in bezug auf seine Person, schon gar nicht in bezug auf seine Aussagen begegnen wird. Und auch das ist charakteristisch für ihn: ein Mensch, dem kein anderer jemals gleichgültig sein wird, der sich immer und gerne engagiert hat, der immer „da“ war, weil jede Minute, jede Situation dieses Lebens eine Frage an den Erlebenden darstellt, die er zu beantworten hat, indem er „da“ ist und dieses Dasein verantwortet.

Der Ausschluß des jungen Frankl aus dem Kreis um Adler führte in der Folge zu einer weiteren Systematisierung seiner Gedanken, aus der Analyse der Existenz entstand die „Existenzanalyse“ — die anthropologische Grundlage der Logotherapie, die von anderen später als die „Dritte Wiener Schule“ bezeichnet wurde und als zumindest ebenbürtig den Systemen Freuds und Adlers gilt, nach Meinung mancher diesen beiden weit überlegen ist. „Frankl durchschlägt unsere bis dahin übliche medizinpsychologische Vorstellung vom Wesen Mensch“, schrieb in der „Deutschen medizinischen Wochenschrift“ Balthasar Staehelin, Professor für Psychosomatik an der Universität Zürich anläßlich der Rezension von Frankls Buch „Der unbewußte Gott“.

„Wer das vorliegende Büchlein liest, wird begreifen, warum Frankl wahrscheinlich für die kommende Medizinpsychologie der größte dieser drei Namen (Freud, Adler, Frankl [Anm. D. Red.]) ist und bleiben wird... Er wird damit — ähnlich wie Einstein, Heisenberg und andere in der Physik — zu einem der Mitbegründer einer neuartigen, eine neue Zeitepoche mitbestimmenden Schau der Psyche.“

Für viele wurde Frankl in der Folge zum Anwalt des Menschen als des Wesens, das sinnorientiert ist und über alle biologische, psychologische und soziale Gebundenheit hinaus frei, weil es zu diesen Bedingungen Stellung beziehen, ja sagen, nein sagen kann.

Die Logotherapie, die als das vorläufig letzte vollständige tiefenpsychologische System gilt, kennt eigene Techniken auch zur Behandlung der „klassischen“ Neurosen. Angesichts eines weltweit zunehmenden Sinnlosigkeitsgefühles aber, des Gefühles in einem „existentiellen Vakuum“ zu stehen (wie Frankl es nennt), innerhalb dessen es sich nicht mehr zu lohnen scheint, „für etwas oder jemand zu leben“, gilt das wesentliche therapeutische Anliegen dem „Menschen auf der Suche nach Sinn“, wie der Titel eines Frankl-Büchleins lautet. Unter dem Eindruck der zerbrechenden gesellschaftlichen Bindungen nach dem Ersten Weltkrieg hatte Frankl das Problem der Sinnflndung schon sehr früh als das Problem zukünftiger Generationen erkannt.

„Im Grunde bin ich bisher daran gescheitert“, schreibt auch Frank B. aus dem Gefängnis, dem Florida State Prison, „weil ich nichts gefunden habe, wofür sich das, was man so Leben nennt, gelohnt hätte.“ — Drogensucht, Alkoholismus, Kriminalität und Aggressivität entstehen nach Frankl dann, wenn das Problem der persönlichen Sinnflndung ungelöst bleibt, der „Wille zum Sinn“ — den er dem „Willen zur Lust“ (Freud) und dem „Willen zur Macht“ (Adler) entgegenstellt — frustriert worden ist. Für diesen Sinn gibt es keine Norm, keine Gebrauchsanweisung wie er zu finden wäre; er ist all das, wofür ein Mensch zu leben, vielleicht auch zu sterben bereit ist.

„Ich bin neununddreißig Jahre alt“, schreibt Frank B. weiter, „habe sechs Jahre hindurch Literaturgeschichte unterrichtet... dann ohne ersichtlichen Grund zu stehlen begonnen und bin so ins Gefängnis gekommen. Jetzt habe ich begriffen, daß mein Leben so verlaufen mußte... daß man das für jeden vorhersagen kann, der sich in einem derartigen existentiellen Vakuum befindet, wie ich mich befunden habe... — Ich werde irgendwann im Frühjahr freigehen und danach eine Zufluchtstätte gründen, das Viktor-Frankl-Haus — für entlassene Häftlinge und Süchtige. Das wird mein Lebenssinn werden, und schon jetzt ist er etwas Schönes.“

Psychotherapie vom Laien her... Lange genug hat der Horror vor dem „mitdokternden“ Laien die therapeutischen Vorstellungen begleitet. Die Logotherapie kennt ihn nicht. Sie baut vielmehr auf dem „selbstverständlichen Selbstverständnis“ des Menschen und auf der Hoffnung auf, jenen Anstoß vermitteln zu könnnen, der die Einsicht ins eigene Wesen freilegt — nämlich ein Sinnorientiertes zu sein —, kraft dessen keiner mehr vor seinen Konflikten in Krankheit flüchten muß, sondern sie zu lösen vermag. Dem Abhängigkeitsverhältnis des Patienten vom Arzt, das Ernst Bloch vor allem der Psychoanalyse vorgeworfen hat, steht die Alternative „Partnerschaft“ entgegen, in der der Patient tatsächlich mehr ist, als der nur Nehmende.

Der junge Frankl, der noch als Student von Professor Pötzl die besondere Erlaubnis erhalten hatte, an der Wiener Universität selbständig Psychotherapie zu betreiben, begann seine Arbeit von allem Anfang an mit Blickrichtung auf diese Partnerschaft. — „Ich versuchte damals all das zu vergessen, was ich von Psychoanalyse und Individualpsy-chologie gelernt hatte“, schreibt er in der „Psychotherapie in Selbstdarstellungen“ (Pongratz), „und begann, vom Patienten zu lernen“. Und er begann jene Worte zu finden, mit denen er sich damals und später den Zugang zum Verständnis des „Mannes von der Straße“ verschaffte.

„Enthusiasmus aus einer Gefängniszelle ... Frank B., um den sich in der Strafanstalt eine Studiengruppe für Logotherapie gebildet hat. Das sind „schwere“ Burschen, nicht irgend welche kleine Ganoven. — Da ist Greg, zweimal wegen Heroinverkaufes verurteilt, Jack, dreimal verurteilt — er hat einen Intelligenzquotienten von über 130, dann Pat,19 Jahre, den man im Alter von drei Jahren mit Ketten an sein Bett gefesselt, mit sechs Jahren vier Tage lang an einen Baum gebunden hatte. Er lief davon und war später immer wieder in irgend einem Gefängnis... Henry, 53, der den größten Teil seines Lebens das Gefühl hatte, es vertan zu haben, immer zu spät gekommen zu sein ...“

In diese Hoffnungslosigkeit bricht nun ein Autor ein — die Gruppe hatte „Man's Search for Meaning“ gelesen —, der nicht nach frühkindlichen Träumen fragt, nicht allein soziale Verhältnisse zur Verantwortung zu ziehen, keine Zwangsläufigkeiten aufzudecken sucht, warum einer scheitern mußte.

Frankl spricht und mit der Uberzeugung, daß jeder jederzeit ein anderer werden kann als der, der er gerade ist. Er spricht von der Einzigartigkeit und Einmaligkeit jedes Menschen, ganz gleich, woher er kommt, und daß nur zählt, was er noch werden wird. Er spricht nicht nur vom unabdingbaren Sinn jedes Lebens, er darf für sich in Anspruch nehmen, auch unter extremsten Bedingungen zu diesem Satz gestanden zu haben: in Theresienstadt, Auschwitz und Dachau, auch in der Freiheit danach, die zuerst nichts als eine Freiheit unter Trümmern und mit Toten gewesen ist und über die er dennoch sagt: „Auch das, das erst recht, hätte bedeutet, gelebt zu haben.“

Psychotherapie kraft des persönlichen Beispieles, nicht nur kraft wissenschaftlicher Einsicht — vielleicht ist das einer der Gründe für diesen und andere Aufbrüche in Gefängniszellen, in einer Zeit zunehmender Entpersonalisierung.

„Ich habe eine Nacht im .maximum security wing' (höchsten Sicherheitsflügel) unserer Anstalt verbringen müssen“, nicht weit vom elektrischen Stuhl und der „Death rovv“, den Todeszellen, schreibt Frank B. in einem anderen Brief. „Da sind Männer in Einzelzellen untergebracht, die auf Jahre hinaus diese Zellen niemals verlassen dürfen. (Im österreichischen Strafvollzug ist länger dauernde Einzelhaft nicht gestattet. Anm. d. Red.) Jetzt habe ich eine Nacht mit ihnen gelitten ... eine der größten Sinnmöglichkeiten, die uns vergönnt sind: leiden.“

Sinn auch im unabänderlichen Leiden zu sehen — diese Vorstellung ist weitgehend verlorengegangen. Man ist gewohnt, zu fragen: Wozu? Warum? Frankl antwortet anders. „Letzten Endes hat der Mensch nicht zu fragen, was der Sinn seines Lebens sei, sondern er hat sich zu erleben, als ein vom Leben Befragter: das Leben fragt ihn, das Leben stellt ihm die Fragen, und an ihm, am Menschen ist es gelegen, diese Fragen zu beantworten, indem er sein Leben verantwortet.“ („Die Kraft zu leben“, Bekenntnisse unserer Zeit, Bertelsmann-Verlag.)

Für den vom Leben Befragten ist es tatsächlich nicht mehr gleichgültig, wie er sein Leiden erträgt. Im Ertragen wird das Erleiden aus der Passivität in die Aktivität der Bei-spielgebung geführt. Das Beispiel der Person ist es, das aus der Position des isolierten Ichs in die Dimension der Ich-Du-Beziehung führt, in die Dimension des eigentlich Menschlichen, dorthin, wo der Mensch sinnorientiert geworden ist und sprachfähig: „Das Verbindliche für die Sprache ist der Sinn“ (Geor-giades).

Frankl ist vor allem in den Vereinigten Staaten ungeheuer populär. „Man's“ Search for Meaning“, soeben in der 44. (!) Auflage herausgegeben und in mehr als eineinhalb Millionen Exemplaren verkauft, gehört drüben ebenso zur Standardausrüstung von Gefängnisbibliotheken, wie zur Pflichtlektüre an Universitäten. In Eurpa hat er lange Zeit nicht die Resonanz gefunden, die man hätte erwarten dürfen. Das mag auch daran gelegen haben, daß die Neue Welt wesentlich früher und auch intensiver als Europa in die Krise um das Problem der Sinnflndung geschlittert ist. Nun, da die kontinentalen Grenzen längst überschritten worden sind, gerät die Logotherapie auch bei uns immer mehr ins Blickfeld. Die Beschreibung des Sinnlosigkeitsgefühles als einer besonderen Neurose unserer Zeit, ist durch vielfältige Literatur aus alle Welt mit Hilfe von Tests und Statistiken bestätigt worden. Leid, Schuld, Tod, nach Frankl die „tragische. Trias“, Alter und Krankheit — die modernen Tabus unserer Gesellschaft — haben durch die Logotherapie wieder Eingang gefunden in die Betrachtung des Menschen.

Frankl ist es gelungen, dem Erlebnis, Zwangsläufigkeiten unterworfen zu sein, entgegenzuwirken. Denn der Mensch, diese riskante Konzeption, der so wenig abgesichert ist, daß er sich weder auf seine Triebe noch auf seine Bedingungen blind verlassen dürfte, unterliegt tatsächlich keiner anderen Zwangsläufigkeit, als der, die er sich selber antut. Nichts sichert ihn selbstverständlich und gegen seinen Willen ab. Nichts enthebt ihn der Verpflichtung, zu sich und der Welt, in der er lebt, Stellung zu beziehen, Verantwortung zu tragen. Nichts kann ihn davor bewahren, schuldig zu werden.

Aber das vollkommene Konzept wäre der Tod. In der unvollkommenen Durchführung öffnet sich der Freiheitsraum für den Ausdruck seiner Wesenheit: seinen Sinn zu finden und zu erfüllen — als Kämpfer, Künstler, Liebender, Duldender —, so nichts mehr zu tun bleibt, als zu ertragen.

„Während ich gehe, aber nicht schreite, nicht springe, nicht laufe, durchläuft mich etwas, schreitet etwas über mich hinweg, springt mich etwas an — die Erkenntnis meiner selbst: ich bin“, schrieb ein sechzehnjähriges Mädchen in seinen Tagebuchtaschenkalender. „ ... Ich bin — heute eine andere als gestern, morgen eine andere als heute, mir unähnlich bis zur Unkenntlichkeit. Führe mich keiner in Versuchung, den Boden unter den Füßen zu verlassen. Ich bin, die ich nie war und immer bleiben muß. Ich bin: gedacht — nicht angenommen, gehört — nicht erhört, gesehen — nicht geschaut. Während ich gehe, geht ein anderer vorbei.“

Anschließend an diese Eintragung unternahm die Schreiberin dieser Zeilen einen Selbstmordversuch mittels Schlaftabletten. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben und damit sich selbst.

Frankls großes Verdienst für die Zukunft wird es unter anderem gewesen sein, ein Bild des Menschen entworfen zu haben, der sein Leben tatsächlich in seiner Hand hält, der nicht vor sich oder der Welt zu fliehen versucht: sei es nun in Krankheit oder Tod, sondern der stehen bleiben und „da“ sein wird.

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