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Auf die Barrikaden für „Bruder Tier“

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Einst galten Gegner von Tierversuchen als Sektierer. Heute werden sie nicht nur vom Gesetzgeber zur Kenntnis genommen, auch viele mit Tierversuchen befaßte Wissenschaftler bekennen sich zu ethischen Richtlinien. Ein neues Tierversuchsgesetz steht bevor.

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Einst galten Gegner von Tierversuchen als Sektierer. Heute werden sie nicht nur vom Gesetzgeber zur Kenntnis genommen, auch viele mit Tierversuchen befaßte Wissenschaftler bekennen sich zu ethischen Richtlinien. Ein neues Tierversuchsgesetz steht bevor.

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Mit der wachsenden Umweltschutz- und Biobewegung ist auch die Zahl der Tierschützer gestiegen. Dabei ist es nicht mehr der schnurrende Kater, der Wellensittich oder der Goldhamster für die Kinder, der geliebt, gehätschelt und verteidigt wird. Heute engagiert man sich zunehmend für vom Aussterben bedrohte Tierarten, für die Abschaffung der Pelztierzucht und Massentierhaltung und — gegen Tierversuche.

Noch vor wenigen Jahren wurden Tierversuchsgegner als Leute eingeschätzt, die gegen den Fortschritt der Technik genauso wetterten wie gegen den der Wissenschaft, heute sind sie in einer Vielzahl von Vereinen organisiert und werden ernster genommen als je zuvor. Neben Greenpeace und dem World Wildlife-Fund, der vor allem auf die Einhaltung der Artenschutzabkommen pocht, existieren zahlreiche Arbeitskreise, Aktionskomitees und so weiter.

Da sind einmal jene Tierversuchsgegner, die jeden Versuch am Tier aus Mitleid mit einer leidenden und gequälten Kreatur und aus Solidarität mit „Bruder Tier“ zutiefst ablehnen. Für sie zählt der geschlagene Hund genauso wie das Versuchstier im Labor. Sie lehnen Jagd, Massentierhaltung und mitunter sogar den Genuß von Fleisch grundsätzlich ab. Dabei sind es oft religiöse Motive, Bibelworte und Gandhizitate, die sie in ihrer Haltung bestärken.

Ihre Ideologie geht vom „gleichberechtigten Nebeneinander von Mensch und Tier“ aus, viele von ihnen sind unermüdliche Leserbriefschreiber, Politikerbesucher und Medienbeobachter. Als großen Erfolg feierten sie eine Änderung des Tierschutzgesetzes vom Juli 1988. Seither wird ein Tier juristisch nicht mehr als Sache, sondern als Lebewesen mit Rechten behandelt.

Daß sich daraus kaum Änderungen beim Strafausmaß und der Verurteilungszahl bei Tierquälerei-Prozessen ergeben, empört diese Menschen. Die enga gierte Tierversuchs-Gegnerin und Tierschützerin Charlotte Probst aus Graz, Obfrau des „Bundesvereins der Tierbefreier Österreichs“, will demnächst in ihrem Verein einen Juristen anstellen, der in sämtlichen einschlägigen Strafprozessen eine Art Kontrollfunktion ausüben solL JDie Befreiung von Versuchstieren aus den Labors dürfte heute nicht mehr als Sachdieb- stahl geahndet, sondern muß als Notwehr gewertet werden!“ lautet ihre kompromißlose Botschaft.

Die Wiener „Liga gegen Tierquälerei und Mißbrauch der Tierversuche“ geht einen anderen Weg. Diesem Verein geht es vor allem darum, bis zur Abschaffung der Tierversuche, die auch er anstrebt, die Zahl der Tierversuche und die artgerechte Haltung der Tiere in den Labors zu kontrollieren. Vertreterinnen der Liga besuchen die Versuchslabors bei Pharmafirmen, diskutieren mit Tierpflegern, Tierärzten und den Geschäftsleitungen und kümmern sich um die Lebensbedingungen der Versuchstiere.

Für unzählige weitere Arbeits kreise gegen Tierversuche, die heute in jeder größeren Stadt zu finden sind, ist das Engagement gegen Tierversuche eher Bestandteil eines allgemeinen Umweltbe- wußtseiris, der Sorge über das wachsende ökologische Ungleichgewicht und die verschwindend kleinen Chancen, sich gegen „das Diktat aus Politik und Wirtschaft“ zu wehren. Die Pharmaindustrie dient hier als Symbol einer parasitären Haltung gegenüber dem Organismus Erde, die sowohl das Überleben der Tiere wie der Menschen in Frage stellt. Sorge um Luft und Wasser, um die nicht erneuerbaren Ressourcen und Skepsis gegenüber einer hochtechnisierten Medizin stehen im Vordergrund.

Diese Gruppen lehnen die Tierversuche als Symptom einer allzu ehrgeizigen Wissenschaft und profitorientierten Heilmittelerzeugung ab. Viele von ihnen arbeiten an Aktivitäten mit. Seifenflocken in der Waschmaschine, umweltbewußter Einkauf, Infostände gegen Tierversuche…

Als österreichischer Dachverband aller Tierversuchsgegner hat sich in letzter Zeit der „Inter nationale Bund der Tierversuchsgegner“ in Wien etabliert. Das Auftreten gegen Tierversuche ist ein Schwerpunkt der Vereinsarbeit, die sich zusätzlich gegen Massentierhaltung, Pelztierzucht und in zunehmendem Maße auch gegen Gen-Manipulationen an Tieren engagiert. Auch die Hauptakteure in diesem Verband haben einen religiösen Zugang zur Problematik, doch wird hier juristische Kleinarbeit genauso betrieben wie die Verteilung von Informationsmaterial (wie zum Beispiel eine Positivliste von tierversuchsfrei getesteten Kosmetikprodukten) und die Organisation von Demonstrationen.

Der Bund der Tierversuchsgegner sieht einem EG-Beitritt gar nicht optimistisch entgegen. Wird doch zur Zeit in der EG die Patentierung durch Gen-Manipulation erzeugter Tierrassen — in den USA schon Realität — diskutiert, wie sie bei Pflanzen längst üblich ist. Zwar gibt es bereits eine EG- Ethikkommission, die über Vertretbarkeit und Notwendigkeit ‘ von Tierversuchen entscheidet, doch agiert diese — meint der Bund — sehr großzügig.

Ein großes Anliegen ist es diesen Tierschützern, auf jene Grauzone hinzuweisen, in der sich noch immer der Großteil des Versuchstierhandels abspielt: „Viele Versuchstiere stammen aus den Ostblockstaaten, oft werden sie gestohlen!“ Unter den 2000 Mitgliedern in Österreich wollen viele gar nicht als spezielle Tierfreunde betrachtet werden. Aus Sorge über die „lebensfeindlichen Entwicklungen in der modernen Naturwissenschaft“ wurden sie zu Tierversuchsgegnern.

Zwischen engagierten Tierliebhabern, Grünbewegten und Wissenschaftskritikern melden sich auch immer mehr jene Wissenschaftler zu Wort, die direkt mit der Entwicklung neuer chirurgischer Techniken, der Erprobung von Medikamenten oder im Kampf gegen Umweltgifte mit Tierversuchen beschäftigt sind. Und auch von ihnen gibt es zwischen heftiger Ablehnung von

Tieropfer für Umweltschutz

Im Jahre 1984 „verbrauchte“ der pharmazeutische Bereich in der Bundesrepublik Deutschland rund 2,44 Millionen Tiere. In Österreich dürfte der jährliche Bedarf an Versuchstieren 400.000 bis 450.000 betragen. Während die Zahl der Versuchstiere seit 1977 stetig zurückgeht — um rund 40 Prozent —, ist bei Schweinen, Vögeln (meist Hühnerküken) und Kaltblütern (meist Fi-

sehen) der Bedarf gestiegen: Vögel und Fische werden in der ökotoxologie benötigt, da einige der Pharmafirmen auch Pestizide für die Landwirtschaft erzeugen.

Der höhere Bedarf an Schweinen ist vor allem auf ihre physiologische Ähnlichkeit mit dem Menschen zurückzuführen. Eine Schweizer Statistik der eingesetzten Versuchstiere bei Ciba-Gei- gy, Roche und Sandoz bestätigt den Trend zur drastischen Reduktion der Versuchstiere. Bei Affen ist ein Anstieg um 44,4 Prozent, bei landwirtschaftlichen Nutztieren um 166,5 Prozent zu registrieren.

Dagegen wird eine deutliche Zunahme von Tierversuchen im Bereich des Umweltschutzes erwartet, da die Umweltgifte auch die Tierwelt bedrohen.

Vergleichszahlen: In

Österreich wurden 1986 6,073.703 Tiere geschlachtet, 981.829 Tiere (Haarwild und Federwild) sind im gleichen Jahr als „Gesamtwildabschuß“ im Statistischen Handbuch der Republik Österreich ausgewiesen.

Quelle: „Bestandsaufnahme der in Österreich behördlich vorgeschriebenen Tierversuche in Hinblick auf die Entschließung des Nationalrates vom 15. Mai 87“ von Walter Knapp.

Tierversuchen (etwa, „weil ihre Übertragung auf den Menschen in vielen Fällen irreführend ist“) bis zu eindringlichen Befürwortern, die „eine Weiterentwicklung der modernen Naturwissenschaften ohne Tierversuche gefährdet sehen“, viele Schattierungen.

Die weltweite Reduktion der Tierversuche ist im Gange, nicht zuletzt durch die hohen Kosten der Tierversuche begünstigt. Diese Entwicklung durch Erprobung und Erforschung alternativer Testmöglichkeiten für Arznei- und Wirkstoffe zu fördern, gewissenhaftes Abwägen der Notwendigkeit eines Versuchs, Vermeiden unnötiger Qualen für Versuchstiere, dies sehen heute Tierschützer wie Wissenschaftler als erste realisierbare Schritte an.

Gleichzeitig warnen freilich viele Experten — etwa Walter Knapp als gerichtlicher Sachverständiger für Toxikologie und Tierversuche in einer Studie Mitte 1988 — „vor langwierigen Genehmigungsverfahren, die letztlich die Verantwortung für Tierversuche doch nur verschieben“.

Offizielle Anerkennung erhielten die Tierversuchsgegner im Dezember 1988 auch von den Politikern: Die Regierungsvorlage zum neuen „Bundesgesetz über Versuche an lebenden Tieren“ wurde auch ihnen zur Begutachtung übermittelt; ein Hearing von Wissenschaftlern, die ihre fachlichen Einwände zum Thema vortrugen, fand im Dezember statt.

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