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Die scharfe Kritik eines deutschen Sozialethikers am Grundtext für den österreichischen Sozialhirtenbrief ist sicher einer ernsthaften Auseinandersetzung wert.

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Die scharfe Kritik eines deutschen Sozialethikers am Grundtext für den österreichischen Sozialhirtenbrief ist sicher einer ernsthaften Auseinandersetzung wert.

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Die österreichischen Bischöfe schicken sich an, einen Sozialhirtenbrief vorzubereiten, der im Mai 1990 verkündigt werden soll. Zu diesem Zweck soll ein „Grundtext“ öffentlich diskutiert werden, den ein „Aktions- und Beraterteam“ verfaßt und im September 1988 veröffentlicht hat. Damit wird die Methode der US-amerikanischen Bischöfe nachgeahmt, die 1986 einen Wirtschaftshirtenbrief veröffentlichten, der als Ergebnis langjähriger Diskussionen über mehrere Entwürfe zustande kam.

In Österreich hat man es offensichtlich eiliger, zu einem Ergebnis zu kommen, denn die Vorlage eines zweiten oder gar dritten Entwurfs ist nicht vorgesehen. Dabei hätte der erste Grundtext, der ziemlich mißraten ist, eine gründliche Revision oder besser: eine völlig neue Fassung verdient.

Schon die Auswahl der sozialen Spannungsfelder ist einseitig auf das Thema „Arbeit“ ausgerichtet.

Das ist an sich verständlich, da die Arbeit im Sinne der Enzyklika „Laborem exercens“ (1981) ein sehr weit gefaßter, sozialethischer Wertbegriff ist, mit dem man viele, wenn auch nicht alle sozialen Probleme in den Griff bekommen kann.

Doch wird dieser Begriff, dem die ersten drei Kapitel ausdrücklich gewidmet sind, überwiegend als Erwerbstätigkeit verstanden. Auch die folgenden Kapitel über die Sachthemen Familie (4), Sozialstaat (5), Arbeitslosigkeit (6), Frauen (7), Landwirtschaft (8), Internationale Verflechtung (9) und Zukunft (10) werden vorrangig aus diesem engen Blickwinkel beleuchtet. Entscheidende soziale Einflußfaktoren wie Zeitgeist, Medien, Freizeit, Wissenschaft, Technik und Ökologie werden hingegen weitgehend ausgeblendet.

Völlig unverständlich aber ist die Ignorierung der mit der Arbeitswelt unmittelbar zusammenhängenden Probleme der Interessenverbände, der Tarifautonomie und der Wirtschaftsordnung. Uber den ethischen Wertgehalt und die Funktionsweise einer sozialen Marktwirtschaft herrscht offensichtliche Unkenntnis.

Die zwölf Kapitel beanspruchen, jeweils nach dem klassischen Dreierschritt von Joseph Cardijn aufgebaut zu sein: „sehen“ (Analyse), „urteilen“ (nach den Maßstäben der Katholischen Soziallehre) und „handeln“ (konkrete Maßnahmen). Dieser hohe Anspruch wird aber nirgendwo konsequent eingelöst. Vielmehr werden einige soziale Problembereiche oberflächlich angesprochen, kein einziges solide analysiert.

Als ethische Urteilskriterien dienen vor allem selektive Aussagen der Katholischen Soziallehre, die auf das vorgefertigte Bild bezogen werden und manchmal den Eindruck bloßer Dekoration erwecken. Die Uberbetonung des Solidaritätsprinzips geht auf Kosten der Subsidiarität, nach der die Zuständigkeiten in der Gesellschaft zu regeln sind, und zwar „von unten nach oben“, nicht vom Staat ausgehend. Bezeichnend für die Tendenz des Grundtextes ist seine Abneigung gegen mehr Flexibilität im Arbeitsleben (im Sinne der Subsidiarität) und sein Plädoyer für mehr Staat.

Methodologisch krankt der Grundtext vor allem daran, daß es nicht gelingt, das sozialethisch Wünschbare mit der konkreten sozialen und ökonomischen Wirklichkeit zu vermitteln. Man verbleibt weitgehend im Bereich der Gesinnungstüchtigkeit und der persönlichen Betroffenheit, ohne eine Brücke zu realisierbaren strukturellen Lösungen zu schlagen. Dieser Mangel kann nicht durch ein Übermaß an vagen Op tionen und suggestiven Fragen kompensiert werden.

Der Grundtext kritisiert und bedauert zwar die Verengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit (Kapitel 2), gleichzeitig beteiligt er sich aber gerade an dieser Engführung. Das „Recht auf Arbeit“ wird allein auf Erwerbstätigkeit bezogen (Kapitel 6). Der Entwurf stellt, bezogen auf die Arbeiten in Familie, Kindererziehung und Nächstenhilfe, die eher beiläufige Frage: „Wodurch könnten neben Erwerbsarbeit sinnvolle, nicht entlohnte Tätigkeiten aufgewertet werden?“ (Kapitel 2 und 11) Die Antwort wird mehrmals angedeutet: durch Bezahlung und „gerechtere“ Verteilung zwischen den Geschlech-

tern (Kapitel 4 und 7). Denn „fast immer sind es die Frauen, die diese ,Schattenarbeit’ in der Familie leisten“ (Kapitel 4).

Die hier vorgenommene Abwertung der Arbeit von Müttern und Hausfrauen, die in einem kirchlichen Papier wenigstens eine freundliche Anerkennung und Würdigung verdient hätten, setzt sich im 7. Kapitel fort, das den Frauen pauschal „Armut“ bescheinigt: „Die Armut ist weiblich.“ Hier wird aber einseitig und überspitzt nur die konkrete Benachteiligung der erwerbstätigen Frauen bemängelt, während die Diskriminierung der Mutter und Hausfrau unerörtert bleibt.

Die Ubergewichtung der Erwerbstätigkeit als zentrale Selbstverwirklichungspraxis setzt die Frauen unter einen beruflichen Leistungsdruck, der dann, wenn sie Kinder bekommen, zu einer unerträglichen Doppelbelastung führen kann.

die entweder auf Kosten der Kinder oder der Erwerbstätigkeit bewältigt wird. Der Grundtext unterstellt, daß nur die Erwerbstätigkeit ein Privileg sei, das es „gerechter“ zu verteilen gilt. Er übersieht, daß auch die Freistellung für Haus- und Familienarbeit eine Chance der Selbstentfaltung ‘ bedeuten kann — besonders für eine Mutter, die wenigstens vorübergehend von anderen Berufstätigkeiten entlastet ist.

Katholiken muß es befremden, daß in dem Entwurf kein Wort über Ehe und eheliche Treue als Voraussetzungen für die Familie gesagt wird. Daß auch das gesellschaftliche Problem der Kinder- femdlichkeit und die soziale Barbarei massenhafter Abtreibung einfach übergangen wird, ist ein besonders trauriger Fall mangelnder Solidarität. Dabei ist das 10. Kapitel der „Zukunft“ gewidmet und trägt den fast zynisch klingenden Untertitel: „Unsere Kinder sollen leben“.

In diesem Kapitel werden lediglich die Umweltschäden, die weltweite Armut und die Kriegsgefahr zur Sprache gebracht, Probleme also, die oft als Vorwände zur Verhinderung von Kindern herhalten müssen. Aber dürfen Kinder nur das Licht einer idealen Welt, ohne Armut und Krieg, erblicken? Oder können wir nur dann die Zukunftsverantwortung für unsere Kinder übernehmen,

wenn diese nicht vorher verhütet oder abgetrieben worden sind?

Hier wird deutlich, daß sich dieses moralische Problem nicht einfach individualisieren, privatisieren — und damit sozialethisch ausklammern läßt. Wenn er nicht ganz unsensibel ist für künftige Entwicklungen, wird sich der Sozialhirtenbrief wenigstens mit der negativen Bevölkerungsentwicklung auseinanderzusetzen haben, die als Folge der Familien- und Kinderfeindlichkeit auf uns zukommt: Die Gesellschaft als großes Altenheim, das sich von Gastarbeitern und Einwanderern mit Kindern und Dienstleistungen versorgen läßt.

Eine weitere soziale Herausforderung haben die Autoren des Grundtextes, der in der Problemsicht der sechziger und siebziger Jahre zurückgeblieben ist, verschlafen. Nämlich die Frage des technischen Fortschritts, der die Form der Arbeit, der Arbeitszeit, der Arbeitsorganisation und der Arbeitnehmerschaft (mit ihren Verbänden) radikal verändern wird.

Ein kleiner Aspekt dieses Problems der hochtechnisierten Arbeitswelt wird in Kapitel 4 (Familie) unter dem Stichwort „Flexibilisierung der Arbeit“ behandelt. Diese wird jedoch nur’ als Gefahr, nicht auch als Chance für das Familienleben wahrgenommen.

Das Kapitel 5 (Sozialstaat) beschränkt sich im wesentlichen darauf, eine pauschale Kritik am Sozialstaat pauschal zu kritisieren, statt auch einmal der Frage nachzugehen, wo ein Mißbrauch der Solidargemeinschaft vorliegt — und wie er zu beheben ist. Aus der Sicht des Grundtextes wird die Solidarität nicht durch den

Mißbrauch, sondern durch die Kritik des Mißbrauchs zersetzt. Die Äußerungen, Solidarität müsse „wachsen“ können, und der Sozialstaat sei „weiterzuentwik- keln“, zielen auf einen Ausbau des Sozialstaates und münden in vagen Andeutungen von „Volkspension“ und „Mindestsicherung“, die wohl aus Beiträgen finanziert werden sollen, die nicht an die Erwerbsarbeit gebunden sind (Kapital- und Maschinensteuer?).

Neben vielen weiteren Absonderlichkeiten und Ungereimtheiten, die der Grundtext bereithält, wäre noch auf das traurige Kapitel 9 (Internationale Verflechtung) hinzuweisen. Hier werden fast alle Schablonen und Phrasen wiederholt, die seit Jahren in jedem Dritte-Welt-Laden angebo- ten werden und nachprüfbare Analysen ersetzen sollen.

Eine vulgarisierte Dependenz- theorie für den kirchlichen Gebrauch, die hier durchschimmert, kann sich freilich nicht auf die Enzyklika „Sollicitudo rei socia- lis“ (1988) berufen, denn „Gier nach Profit“ und „Verlangen nach Macht“ sind nicht nur den nördlichen Industrienationen eigen, sondern prägen auch die Strukturen innerhalb der Entwicklungsländer, so daß der einseitige Ausbeutungsvorwurf nicht zutrifft. Ansätze zu einer gerechteren internationalen Arbeitsteilung oder zur Strukturreform des Welthandels sind nicht erkennbar.

Zum Schluß des Papiers stellen die Autoren die berechtigte Frage: „In welchem Bereich, durch welche Bildungsmaßnahme … können wir unsere soziale Kompetenz erweitern?“ In allen Bereichen! Aber wer organisiert’die langjährigen Bildungsmaßnahmen?

Die österreichischen Bischöfe wären gut beraten, nicht auf Berater zu hören, die selber dringend der Beratung bedürfen. Sie sollten ihre Autorität nicht kurzerhand aufs Spiel setzen, sondern den Sozialhirtenbrief auf eine längere Bank schieben.

Der Autor ist Professor für Christliche Sozialwissenschaft an der Theologischen Fakultät Trier und Dominikaner.

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