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Auf einem Schloß

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Nur einmal, für die Dauer eines Wochenendes, hatte ich die Stille kennengelernt. Ich war bei einem Freund zu Gast gewesen, dessen Familie im hintersten Hinterland ein Schloß bewohnte. Man hatte mich im Park empfangen und mir dann ein Zimmer im entferntesten Flügel jenes Schlosses zugeteilt, wo ich bei offenem Fenster einen Nachmittag auf dem Bett gelegen war, angekleidet, mit dem sonnenbestrahlten Wiesenhang vor Augen, und rings um mich stand und hing das älteste, rätselhafte Zeug.

Da gab es Herzkapseln, gefüllte Urnen, Richtschwerter aus fernen Jahrhunderten auf den Kommoden, auf den Fenstersimsen, an den Wänden Da gab es Reliquienschreine, obskurer Heiliger, da herrschten Vergangenheit und Tod in solcher Ubermacht, daß der Lebende nur noch lächeln konnte. Ich lag auf dem Bett und hörte einen Nachmittag kein vorbeifahrendes Auto, keinen Flugzeuglärm von oben, keine Menschenstimmen, nichts. Nur die Grillen zirpten, und Insekten schössen durch die Luft. Der Sommertag war ein Gewaltherrscher über das weltverlorene Schloß, er hatte demselben gleichsam die Zunge herausgerissen, es war alles so still und blutig grün.

Da spürte ich, wie die Menschen vergangener Zeiten gelebt hatten, mit dieser Ungeschorenheit, mit so viel Tod und Lächeln zur Seite. Sie hatten keinen Nachmittag und kein Wochende so gelebt, sondern vom Beginn bis zum Ende. Da mußten sich die Pole freilich auflösen. Ich kam zur Ruhe. Jene Menschen, die Vorfahren meines Freundes, er selber ein Stück von jedem von ihnen, die das Schloß erbaut und bewohnt hatten - wir, auch die Besitzer und Erben, huschten unrechtmäßig durch.Säle und Gänge - konnten sich weder als Beherrscher noch als Opfer ihrer Wirklichkeit empfunden haben. Sie waren Teil derselben, nichts unterbrach ihre Teilnahme, natürlich auch nicht der Tod.

An jenem Nachmittag im Schloß des Freundes, den ich seiner Toten wegen nur noch inniger liebte, obwohl er mir zugleich femer rückte, hatte ich, aufblitzend wie ein sanftes Wetterleuchten, gemerkt, wie verkehrt ich lebte und wir alle lebten. In einer unaufhörlichen Anspannung lebte ich, lebten wir, das konnte nicht gut ausgehen. Am Baum vor dem Fenster hämmerte ein Specht, zum ersten und einzigen Mal sah ich, daß Specht und hämmern nicht bloß Worte waren, sondern Zeichen für etwas, und indem ich das Eigentliche sah, brauchte ich die Zeichen nicht länger.

Es muß Zeiten gegeben haben, die mit dem Schauen beschäftigt waren, und Zeiten, die dem Geschauten die Namen verliehen. Meine Zeit war nur noch damit beschäftigt, die übernommenen Namen gedankenimmer rascher auszusprechen, bis sie unkenntlich wurden und tot zur Erde fielen. Dann lagen die Worte, die einmal Dinge gewesen waren, und danach immerhin noch Zeichen, als tote Vögel am Boden oder schwammen als tote Fische im Teich. Wir klaubten sie auf und zupften ihnen die Federn oder die Schuppen von ihren starren Körperchen. Mit diesen Teilchen, an denen nichts mehr war, schmückten wir uns und nannten uns reich.

An jenem Nachmittag im Schloß des Freundes hatte ich mir vorgenommen, fortan ein schweigsameres, gemesseneres Leben zu führen. Aber ich hatte mein Wort nicht gehalten, weil ich der Zeit gehorchte, in der Erwartung eines Vorteiles, der mir nie zuteil geworden ist. Heute stehe ich am Ende meines Wartens, und keine Sommerwiese übt Macht über mich aus, obwohl die sommerliche Luft über den Feldern zittert.

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