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Auf Friedenssuche im Norden Indiens

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Mit dem vorläufigen Ende der Gandhi-Ära, besiegelt durch eine verheerende Niederlage der Kongreß-I-Partei bei den Par­lamentswahlen vom November, zeichnet sich eine markante Um-orientierung der indischen Politik ab. Der neue Ministerpräsident Vishwanath Pratap Singh hat in seiner Regierungserklärung vom 2 0. Dezember 89 deutliche Akzente ge­setzt: Ordnung schaffen im Inne­ren, Selbstbeschränkung nach au­ßen, lautet die Devise. V.P.Singh geht es in erster Linie darum, das eigene Vielvölkerhaus in Ordnung zu bringen; für große weltpoliti­sche Gesten im Stil Gandhis ist kein Platz. Der Regierungschef ist mit dem Anspruch angetreten, Hindus, Sikhs und Moslems zu versöhnen. An dieser Aufgabe waren Indira Gandhi und ihr Sohn Raj i v geschei­tert.

Im Wahlkampf fand der nunmeh­rige Premier ein weites Betätigungs­feld, denn aufzuräumen gibt es im indischen Subkontinent vieles. Beherrschendes Thema der von ethnischen und religiösen Zusam­menstößen geprägten Vorwahlzeit war die Innenpolitik. Das Opposi­tionsbündnis der Nationalfront, angeführt von Singhs Janata Dal, sagte der unter Gandhi blühenden Korruption den Kampf an - und siegte. Die Außenpolitik spielte hingegen nur eine untergeordnete Rolle; sie beschränkte sich auf die Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

Pratap Singh konnte die Regie­rungsgeschäfte mit dem Bonus des unbestechlichen Politikers über­nehmen. Der aus dem nordindischen Unionsstaat Uttar Pradesh stam­mende Regierungschef, ein Hindu, gilt als liberaler Mann des Aus­gleichs; er steht für Wirtschaftsli­beralismus ebenso wie für die Aus­söhnung der religiösen Gruppen.

Kaum war der „Herr Graf" (Radjasaab), wie er von Freunden genannt wird, am Regierungsruder, packte er das heiße Eisen der Reli­gionskonflikte im Norden an. Separatistische Tendenzen in den Bundesstaaten Punjab, Kaschmir und Assam erteilte er in seinem Regierungsprogramm eine klare Absage. Er berief einen Moslem aus Kaschmir, Mufti Mohammed Sey-eed, als Innenminister in sein Kabi­nett. Seyeeds Berufung in das „Polizeiressort", als Versuch einer Entspannung zwischen Moslems und Hindus gedacht, drohte als­bald zu einem Bumerang zu wer­den.

Der neue Innenminister erhielt den Auftrag, sich unverzüglich um eine Beendigung der Extremisten­aktionen in Kaschmir und Punjab zu bemühen, die auf eine Loslösung vom indischen Staatenverband abzielen. Sogleich zahlte er Preis­geld: Militante Moslems der „Be­freiungsfront Kaschmir" entführ­ten seine Tochter, die sie erst nach Freilassung von fünf inhaftierten Kampfgefährten freigaben. Die Front kämpft für die Angliederung des mehrheitlich von Moslems bewohnten Unionsstaates an Paki­stan. Zahlreiche Tote bei Unruhen, Ausgangssperren und Demonstra­tionen mit der Forderung nach einer Volksabstimmung über das Schick­sal Kaschmirs waren die Folge der Entführungsaffäre.

Auf dem zweiten Krisenschau­platz, im Punjab, setzte der Pre­mier indessen persönliche Signale für den angestrebten Dialog. Weni­ge Stunden nach Amtsantritt ließ er drei hohe Sikh-Führer frei, die sein Vorgänger ins Gefängnis ge­steckt hatte. Fünf Tage später rei­ste V.P.Singh überraschend zu ei­nem Blitzbesuch des Goldenen Tempels, der heiligsten Stätte der Sikhs, nach Amritsar. Er versprach überdies, die Massaker, welche rächerische Hindus nach der Er­mordung Indira Gandhis verübt hatten, untersuchen zu lassen.

Die Sikh-Religionsgemeinschaft hatte der Premierministerin den blutigen Tempelsturm des Jahres 1984 nie verziehen und sie diesen „Frevel" mit dem Tode büßen las­sen. Ihre eigene Sikh-Leibwache wurde zum Mordkommando. Der zunehmenden Gewaltätigkeit von Extremisten im Punjab wurde Indiras Sohn und Nachfolger Rajiv niemals Herr. Im Gegenteil: Der vermeintliche Drahtzieher des Mordkomplotts gegen Indira Gand­hi, der Sikh-Politiker Simranjit Singh Maan, erzielte bei den Wah­len mit fast einer halben Million Stimmen das landesweit zweitbe­ste Einzelergebnis.

V.P.Singh, den im Gegensatz zu den Gandhis ein unbelastetes Ver­hältnis zu den Sikhs auszeichnet, machte diesen in der Vorwoche neue Zugeständnisse, um ihrem Ruf nach einem „freien Khalistan" (FURCHE 11/88) entgegenzuwirken. Auf einer Großkundgebung in Ludhia-na, zu der Zehntausende Menschen strömten, bot der Regierungschef aus Delhi die Überprüfung der Verfahren gegen Sikh-Häf tlinge an. Im Reisegepäck seiner zweiten Punjab-Visite binnen weniger Wochen fand sich ferner die Reha­bilitierung von Sikh-Soldaten, die vor dem Sturm auf den Goldenen Tempel aus der Armee desertiert waren.

Die mächtige Sikh-Partei Akali Dal ließ einen Wermutstropfen auf die Goodwill Tour Pratap Singhs fallen. Sie boykottierte die „nutz­lose Veranstaltung" ebenso wie die Kongreß-Partei von Oppositions­chef Gandhi. Der Premier spielte der Unruheprovinz den Versöh­nungsball zu: „Die Lösung liegt nicht in den Korridoren Delhis, sondern in den Weizenfeldern des Punjab."

Singhs Außenminister Inder Gujral streckte kürzlich diploma­tische Fühler zum Problemnach­barn Pakistan aus. Die Sezessions­bestrebungen von Punjabis und Kaschmiris waren Gegenstand von Gesprächen, zu denen er einen Sonderemissär aus Islamabad empfing. Nach indischen Pressebe­richten signalisierte V.P.Singh sei­ner pakistanischen Amtskollegin Benazir Bhutto, die Aufnahme des von Delhi gewünschten vertrauens­bildenden Dialogs auf hoher Ebene setze eine Unterbindung des Waf­fenschmuggels für die „Terroristen" in Kaschmir und Punjab voraus.

Ex-Premier Gandhi reagierte mit massiver Kritik auf die Politik der „Wende", die er als weltweiten Prestigeverlust Indiens geißelte. Seinem Nachfolger warf er vor, in den beiden Krisenstaaten „Terro­risten das Feld überlassen". Radi­kale Sikhs lagerten, wie ehedem im Goldenen Tempel, wieder Waffen in ihren Heiligtümern ein, warnte der Oppositionsführer.

Tatsächlich hat sich Singh auf eine Gratwanderung begeben. Mit seiner Minderheitsregierung ist er auf die Unterstützung der Hindu-Fundamentalisten der Bharatiya Janata Partei und der Kommuni­sten angewiesen, um seine Befrie­dungspolitik verwirklichen zu können. Vor der Wahl schmiedete der gemeinsame Widerstand gegen Gandhi diese politischen Rand­gruppen an das Oppositionsbünd­nis, sie halfen Singh in den Regie­rungssattel.

Wieweit sie aber jetzt im Kon­greß eine föderalistische, Sikh- und moslemfreundliche Politik mitzu­tragen bereit sein werden, ist frag­lich. Im mehr als 800 Millionen Köpfe zählenden Mammutstaat Indien stellen die Moslems elf, die Sikhs nur zwei Prozent - neben einer Hindu-Übermacht von 83 Prozent. Das überdurchschnittliche wirt­schaftliche Gewicht vor allem der Sikhs birgt ebenso einen Keim für Konflikte wie das Unabhängig­keitsstreben dieser Minderheiten.

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