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Auf Spurensuche nach dem Paradies

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Ideale sind für jede Gesellschaft und Demokratie lebensnotwendig. Daran erinnert Wolfgang Kraus in seinem neuen Buch. Er warnt aber auch vor deren Mißbrauch.

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Ideale sind für jede Gesellschaft und Demokratie lebensnotwendig. Daran erinnert Wolfgang Kraus in seinem neuen Buch. Er warnt aber auch vor deren Mißbrauch.

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Wer dieses (sein siebentes) Buch von Wolfgang Kraus besprechen will, tut gut daran, sich das Schlußkapitel des vorangegangenen Buches „Nihilismus heute oder die Geduld der Weltgeschichte“, wo nicht weniger als zehn konkrete Hinweise über die Möglichkeit der Aufhebung des Nihilismus aufgezählt sind, und die letzten Zeilen jenes Buches zu vergegenwärtigen: „Die Expansion des Nihilismus verrät, daß der Abschied vom Traum des Paradieses auf Erden bisher nicht geglückt ist.“

Dort hat sich Wolfgang Kraus zunächst einmal mit den erschreckenden Phänomenen der Selbstzerstörung, der Zerstörung durch den Nihilismus, auseinan dergesetzt und meinte, man solle vorerst die Gegenkräfte kennen, wenn man sich mit den Idealen beschäftigen will.

„Uber Ideale“ lautet denn auch der Untertitel seines neuen Buches, was darauf hinzuweisen scheint, daß es dem Autor weniger um eine Fortsetzung des Nihilismusbuches, als um einen Kontrapunkt, eine Gegenmelodie, zu tun war.

Brauchen wir Ideale? Diese Frage taucht in den ersten Kapiteln des Buches wiederholt auf. Was sind Ideale und woher kommen sie? Ideale stehen dem Verfasser für die Zuversicht, daß eine Entwicklung zu besserem Erkennen, Denken und Handeln und damit die Schaffung einer besseren Welt möglich ist. Sie sind „Wunschentwürfe, die über die Wirklichkeit hinausführen und allgemein Wünschenswertes einbeziehen“.

Gibt es dem Menschen eingeborene, ihn überall und zu jeder Zeit bestimmende Ideale? Wolf gang Kraus bejaht und beweist dies mit einem Musterbeispiel: „Das Ideal des persönlichen Glücks und das Ideal der Liebe sind Wunschvorstellungen jedes Menschen.“ Dabei will er nicht über Idealismus und Ideale abstrakt und schlechthin schreiben: „... es kommt mir auf persönliche und gesellschaftliche Orientierung nach Idealen an.

Wolfgang Kraus will „vor innerer Aushöhlung bewahren“, er plädiert für die komplementäre Nähe von Tugend und Ideal und warnt vor der Faszination und Gefährlichkeit von Utopien, die sich als Ideale ausgeben: „Utopien werden zu Idealen umgefälscht, und diese Scheinideale führten in Katastrophen. Die Vermischung von Utopie und Ideal erwies sich — durch Marx, Lenin, Stalin, Mao, Hitler — als das gefährlichste Verhängnis unseres Zeitalters.“

Wo aber sind die Ideale geblieben? Das Radioprogramm öl hat in einer siebzehnteiligen Sendung über dieses Buch den Verfasser meist im Gespräch mit Volkmar Parschalk, manches Mal allein berichten lassen. Meine Frau und ich haben fast alle Sendungen mitgehört und waren übereinstimmend am stärksten beeindruckt, als die Kapitel „Pervertierte Ideale der Politik“ und „Demokratie und Ideale“, ebenso „Kunst als Bereich der Ideale“ zur Sprache kamen.

Wir staunten, wie ein Nichtpoli-tiker das Defizit an Idealen in der heutigen Demokratie glasklar und oft mit vernichtender Kritik an Politikern aufzeigt: „Die De mokratie war einst selbst ein Ideal, das gegen heftige Widerstände und auch nach vielen Rückschlägen in einem großen Teil Europas und in den USA weitgehend verwirklicht wurde.“

Das demokratische Ideal (Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Toleranz und Frieden) ist für ihn das Tor zu anderen Idealen (Liebe, Familie, Kunst, religiöses Leben, allgemein sozialer Wohlstand, allgemeine kulturelle Entwicklung und viele andere).

Mit der Frage: „... doch wo ist das Ideal, wo sind die Ideale der Demokratie geblieben?“, weist Kraus auf die Kehrseite der Demokratie hin: Den Regierungsparteien scheint es nur noch um die Macht zu gehen, die Parteiprogramme werden immer verschwommener, die Wahlversprechen wecken hemmungslos Illusionen, insgesamt findet ein Verschleiß der demokratischen Mechanismen, der Politiker, der politischen Diskussion, des Parlaments, der Kritik der Parteien untereinander statt.

Die von den Massenmedien angewandte Dramaturgie greift gierig nach den negativen Effekten: Sensationen, Skandale. Die Politiker der Regierungen und großen Parteien seien nur noch in der Routine von Wirtschaftsfragen und gewerkschaftlichen Strategien befangen.

Das unübersehbare Defizit an Idealen in den heutigen Demokratien erscheint umso tragischer, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Staatsform der Demokratie einst durch ein langdauerndes, gedanklich und politisch aktives Streben nach bedeutenden Idealen entstanden ist.

Aber nicht nur die Ideale der Demokratie werden schmerzlich vermißt: „Wo sind aber die Ideale eines vereinten Europa, des friedlichen Fortschritts, der Hu-manisierung der Welt geblieben?“ Am Beispiel des stark schillern-

„Auf die Verwechslung von Kunst und Wirklichkeit steht die sichere Strafe des Scheiterns“ den Ideals „Mitteleuropa“ fragt der Autor, ob Zoran Konstantino-vic nicht recht hätte mit seiner Warnung: So vieles hätten die Politiker verdorben, daß man die mitteleuropäische Idee vor ihnen bewahren und bei der kulturellen

Gemeinschaft bleiben sollte.

Doch auch die kulturellen Inhalte, die zur europäischen Zivilisation gehören, seien weitgehend in Vergessenheit geraten, sogar in Europa selbst. Sie müßten neu bewußtgemacht und in ihren heutigen Möglichkeiten genützt werden. Das Ideal Europa sei in allen seinen Aspekten heute immerhin aktueller als jemals zuvor.

Die Kunst als Bereich der Ideale: Hier ist Wolf gang Kraus unbestritten zu Hause! Zwei Stichwörter begleiten ihn bei diesem Plädoyer für die Ideale: Ideale werden nur durch Annäherung, niemals vollkommen und nur durch Überschreitung des Realen, der Grenzen des Individuellen und des Irdischen, aiso durch Transzendenz, erreicht.

Dies gilt vor allem für die Kunst: „Das Ideal der Kunst ist

Überschreitung..., sie läßt uns durch das Erfahren dieser Uber-schreitung das Lebensmögliche deutlich werden.“

Die Kunst als idealisierende Überhöhung der Wirklichkeit: „Die Schrecken begannen, als man in menschlicher Vermessenheit und Hoffart vermeinte, die ideale Landschaft auf der Erde finden, das Wunschbild verwirklichen zu können... Auf die Verwechslung von Kunst und Wirklichkeit steht die sichere Strafe des Scheiterns, der Tragödie, der Katastrophe... Im Mittelalter führte die Verwechslung von Idealvorstellungen und Wirklichkeit zu Aufständen, Revolutionen, Gewaltakten und Schlächtereien lokalen Ausmaßes.

Eine solche Verwechslung aber kann heute zur Auslöschung des menschlichen Lebens auf der Erde und zur Vergiftung von Kontinenten führen ... Die Verwechslung von Kunst und Wirklichkeit, aber auch von Wissenschaft und erreichbarer Wirklichkeit..., der Versuch, die Ideale in absoluter Vollkommenheit in unserem Dasein auf Erden zu verwirklichen, führt zum sicheren Scheitern dieses Versuchs und in der Folge zur Liquidierung jedes Glaubens an Ideale.“

Was beim Lesen dieses wohl besten der bisherigen Bücher von Wolfgang Kraus auffällt und beglückt, ist:

• die erstaunliche Belesenheit und Treffsicherheit bei der Auswahl von Zitaten. Vom Gilga-mesch-Epos aus dem 12. Jahrhundert vor Christus, dem Alten und Neuen Testament, Seneca und

„Die Treffsicherheit bei der Auswahl von Zitaten ist erstaunlich.“

Paulus, Augustinus und Kant sind treffendste Belegstellen entnommen, um die Spuren des Paradieses zu entdecken, ohne den Verführern zu den falschen Paradiesen zu verfallen;

# die überlegene sokratische Methode, mit welcher der Verfasser jedem Kapitel ein halbes Dutzend kritische Fragen voranstellt, die dann präzise und kompetent beantwortet werden;

# die noble und behutsame Art und Weise, wie Kraus auf die Spurensuche für sein Anliegen gerade bei Siegmund Freud, Alfred Adler und ihren Schülern geht — und, oft überraschend, fündig wird;

# seine Kenntnis, persönliche Nähe und Sympathie zu Intellektuellen und Literaten aus dem Osten: „Die Beobachtung von Intellektuellen aus den kommunistischen Staaten, unter denen ich viele Freunde habe, ist ein Teil meines Lebens.“

# der prachtvolle Stil, der Kraus auf die Höhen der Denkkraft und Sprachkunst der besten Essayisten führt, um etwa zu zeigen, daß das Ideal der Kunst die Wirklichkeit transzendiert, zum Bild der Vollendung oder zum Versuch der Beschwörung des Göttlichen wird.

Wenn er uns etwa in kurzen Strichen seine Interpretation der Kunst in griechischen Tempeln und Theatern, in den Höhlen von Lascaux und Altamira, in den Pyramiden, Tempeln und Grabkammern des Niltals, unter der Kuppel der Hagia Sophia, vor den Mosaiken in Ravenna und Aquileja oder — besonders ergreifend — vor der Fensterrose an der Nordseite von Notre-Dame in Paris vorstellt oder auf dem Gebiete der Literatur, seines eigentlichen Metiers, uns zurück zum Gilgamesch-Epos, zu den Propheten des Alten Testaments, und aus neuerer Zeit zu Dostojewskij und Oscar Wilde. Rilke und Kafka, W. H. Auden und Stanislaw Lern, Christa Wolf und Peter Handke führt, um immer wieder Einschlägiges zu seiner These zu zitieren und zu beweisen, daß „in unserem Dasein das Paradies zwar niemals zu erreichen ist, Spuren des Paradieses aber durchaus zu finden sind“.

.Der Autor ist Bundeskanzler a. D.

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