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Aufbau in Askese

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Alger la Blanche! Nicht überall ist sie weiß, diese Stadt, deren Panorama manche mit jenem von Neapel oder Rio vergleichen. An gewissen Stellen würde sie eher den Beinamen „die Schwarze" verdienen. Zum Glück regnet es an der Küste von Zeit zu Zeit. Wildbäche stürzen dann von den Anhöhen der Bucht durch GasiSen und Straßen zum Hafen hinunter. Hernach ist Algerien wirklich weiß, auch in den dämmrigen Winkeln der Kasbah.

Algier, oder El Dschezair, wie die Araber sagen, ist ein schöne Stadt, gleichermaßen prunkvoll wie abenteuerlich. Auf den Boulevards im Zentrum bieten Kaufhäuser und Boutiquen Auswahl wie in den Metropolen Europas, bereichert durch die Schätze des Orients. Die Überzahl der Passanten sind Männer. In europäischer Kleidung oder in der würdevollen Gandura. Aber auch Frauen bevölkern Geschäfte und Gehsteige. Die Mode ist vielseitig: Mini, Midi, Maxi — und verschleiert. Die Mädchen: auffallend schön. Es bestehen in Regierungskreisen gewisse „Sanierungspläne", die der Kasbah, dem interessantesten und liebenswertesten Viertel von Algier, ein trauriges Ende bereiten könnten. Vor zehn Jahren noch war die Kasbah für Touristen nahezu tabu. Nur auf eigene Verantwortung durfte man diesen interessantesten Teil der Stadt betreten. Die französische Polizei lehnte es ab, bei einem Vorfall einzugreifen. Heute ist die Kasbah so sicher wie jeder andere Platz in Algier.

Und nicht nur in der Hauptstadt, im ganzen Land herrschen Ordnung und Sicherheit. Das ist vielleicht einer der auffallendsten Eindrücke im heutigen Algerien. Auch Reisende aus den Nachbar.sitaaten bestätigen es: man merkt die feste Hand de« Regimes. Es gibt geregelte Preise — selbst im kleinsten Laden oder Cafe, man wird kaum von Bakschischjägem belästigt, und auf den Banken werden ausländische Währungen zu vernünftigen Kursen umgewechselt, sogar der österreichische Schilling. Die Situation Algerdens ist nicht so düster, wie sie gerne dargestellt wird. Mit seinen zwölf Millionen Einwohnern hat es ein Jahresbudget wie Frankreich und den größten wirtschaftlichen Erfolg aller Entwicklungsländer. Allerdings auch den stärksten Bevölkerungszuwachs. Der wirtschaftliche Schwerpunkt liegt in der Industrie und neuerdings in der Erdöl- und Erdgaagewinnung. Die Landwirtschaft gut nicht als Geschäft, sondern als Beschäftigungsfaktor. Der Staat ist der größte Grundbesitzer, die staatlichen Güter sind mustergiiltig gepflegt. Daneben gibt es Genossenschaften auf der Grundlage des islamischen Rechtes und privaten Landbesitz. Nie voiher wurden Grund und Boden so ausgenützt wie heute. Von der Küste bis zur Wüste präsentiert sich Algerien als wohlbestellter Garten. Trotzdem gibt es eine große Anzahl von Arbeitslosen, die allerdings nur in den Städten auffallen. Es ist für die Behörden schwierig, ihre tatsächliche Zahl festzustellen, weil sich bei Erhebung jeder als arbeitslos bezeichnet, der nicht in einem fixen öffentlichen Arbeitsverhältnis steht. Nun ist es aber im Orient so, daß ein großer Teil der Bevölkerung freiwillig auf eine Dauerbeschäftigung verzichtet. Innerhalb einer Sippe gibt es meist nur einzelne Verdiener. Die anderem leben mit. Ar-nrut ist keine Schande, und der Besitzende hat schon von der Religion her die Verpflichtung, den Minderbemittelten zu helfen. Diese Mentalität mag ein Hindernis für die Entwicklung des Staates sein, sie macht aber das Leben menschlicher. Beachtlich sind die Leistungen auf dem Schulsektor. Schulgebäude wachsen wie Püze aus dem Boden — stilvoll und funktionsgerecht. Um den Lehrermangel zu vermindern, holt man Kräfte aus anderen arabischen Staaten und aįis Frankreich. Das Straßennetz — von den Franzosen gut angelegt — wurde inzwischen um ein Vielfaches erweitert und hat heute eine Gesamtlänge von 65.000 Kilometer. Die Hauptverbindungen — auch zu den Oasen der Sahara bis hinunter zum Großen Erg — sind asphaltiert und in ausgezeichnetem Zustand. Nachdem die dringendste Aufbauarbeit seit Erlangen der Unabhängigkeit (1962) vollbracht ist, bemüht sich Algerien jetzt auch um die Entwicklung des Tourismus, obwohl dieser Wirtschaftszweig — wie man erklärt — für den Staat nur untergeordnete Bedeutung besitzt. Was geschieht, ist trotzdem imponierend. Abgesehen davon, daß die während der Kolonialzeit errichteten Erholungsplätze renoviert und dem neuen algerischen Stü angepaßt werden, forciert die Regierung den Bau von bodenständigen Hotels und Feriendörfern in interessanten Regionen. An der Mittelmeerküste westlich von Algier entstanden die reizvollen „Ferien-Kasbahs" von Zeralda und

Tipasa. Kleine Touristenstädte nach heimischem Vorbild mit weißen Bungalows, Vülen, Hotels, Restaurants, Unterhaltungslokalen und gepflegten Anlagen. Ein Märchentraum aus Tausendundeiner Nacht an der noch unverbrauchten Küste Afrikas. Auch die vom Staat erbauten Hotels können sich sehen lassen. Ähnliche Objekte sind in allen größeren Oasen der Sahara geplant Wo immer der Staat etwas baut geschieht es unter größter Rücksichtnahme auf das Ortsbild. Ob das Bauwerk in einer Oase oder in den Bergem der Kabyled, es zeigt immer den «iiarakteristischen Stil dieser Gegend und fügt sich harmonisch dn die Landschaft Gebaut haben seinerzeit auch die Franzosen, aber sie bauten „europäisch"; die Wohnblocks aus der Kolonialzeit unterscheiden sich nicht von jenen in den Städten Frankreichs. Die algerische Regierung will die Bigen-ständigkedit des Landes auch im Baustil dokumentieren. Sie tut es mit Erfolg.

Algerien befindet sich im Aufbau, teilweise im Wiederaufbau. Augenfälliges Beispiel: Biskra. Einst die „Königin der Oasen", ist Biskra heute eine uninteressante Provinzstadt mit einer erschreckend hohen Zahl von Arbeitslosen. Wohl wiegen immer noch die 150.000 Dattelpalmen ihre schwerbeladenen Häupter im Wind, wohl grüßen weiße Minarette aus dem wogenden Grün, streicht der schwere Duft von tausenden Blüten durch die Haine, at>er aU das, was früher einmal die Atmosphäre Bis-kras als Touristenmetropole Algeriens ausmachte, ist verblichen, abgewirtschaftet, verkommen. Die prächtigen Hotels, das Casino, der Jardin Landon, sind kaum mehr wiederzuerkennen, die Gassen der Ouled-Nail-Tänzerinnen verwaist Nur baufällige Holzbalkone künden vom übermütigen Treiben vergangener 2^iten.

Man versichert von offizieller Seite, daß auch Biskra in den Wiederaufbau einbezogea sei und bald wieder an Bedeutung gewinnen werde. Die Ouled-Nail-Mädchen werden allerdings nicht mehr einziehen. Die Prostitution — einst von der Kol-nialverwaltung geduldet — ist im neuen Algerien verboten. Verboten ist auch Rauschgift. Alkohol erhält man nur in europäischen Lokalen. Da es außerdem wenige Lichtspieltheater gibt, beklagen sich viele Algerier über einen Mangel an Un-terhaltungsmögUchkeiten. Die Regierung meint jedoch, Algerien habe zur Zeit Wichtigeres zu tun, als sich zu amüsieren. Staatschef Boume-dienne, sehr zu islamischem Asketen-tum neigend, geht mit gutem Beispiel voran.

Das gegenwärtige Regime ist streng, aber flexibel. Das Einparteiensystem wird mit dem Hinweis verteidigt, daß sich Algerien gegenwärtig „nicht mehrere Parteien leisten" könne. Sie würden, so heißt es, unweigerlich zu innenpolitischen Krisen führen und den Aufbau des Landes sowie die Zusammenarbeit mit anderen Staaten erschweren. Trotz des merklichen Einflusses kommunistischer Staaten, scheint Algerien aber bemüht, außenpolitisches! Gleichgewicht zu halten. Ein Funktionär der ALN: „Sorgen über eine einseitige politische Bindung Algeriens sind töricht. In den kritischen Tagen des algerischen Befreiungskampfes hat man sich nicht an eine Seite gebunden. Die Summe der Opfer, die das Land für seine Unabhängigkeit gebracht hat, ist so unvorstellbar groß, daß es schon deshalb ausgeschlossen ist daß diese Unabhängigkeit jemals wieder aufgegeben wird."

So pflegt Algerien gute Beziehungen zu Frankreich. Wirtschaftliche Spannungen wie etwa im Zusammenhang mit den Erdöllieferungen (Verstaatlichung!) dürfen keineswegs als Symptom für die Grundeinstellung der Algerier gewertet werden. Wenn man weiß, daß in Europa allein der Fiskus rund das Fünffache des an die OPEC-Länder bezahlten Rohölpreises kassiert, kann man die Bemühungen der Erdölländer um höhere Preise irgendwie verstehen. Solange Westeuropa seine Infrastruktur auf Kosten der arabischen Förderländer verbessert, wird es Schwierigkeiten in Zusammenarbeit mit diesen Staaten geben. In Algerien gibt es aber heute keinen „Frankreichkomplex". Der Kolonialismus ist überwunden. Es bestehen zu viele Gemeinsamkeiten mit Frankreich, als daß eine völlige Trennung für Algerien wünschenswert wäre. Das zeigt sich bereits in der Sprache. Das Französische hat nach wie vor mehr Bedeutung als arabisch. Sogar das Regierungsblatt „El Moudjahid" erscheint In Französisch.

Algerien geht einen eigenen Weg und wird jenen Kurs wählen, der seinen und den Interessen seiner Regierung entspricht. Diese Interessen werden sich zwangsläufig nicht immer mit den Interessen verschiedener anderer Staaten decken. Man sollte sich bei der Beurteüimg der Verhaltensweise orientalischer wie auch asiatischer Völker immer klar darüber sein, daß die europäisch-amerikanische Denkungsart keinen Anspruch auf globale GüMgkedt erheben kann. Orientalen denken anders und sie haben ein Recht darauf. Und Algerien Hegt — trotz aller historischen und wirtschaftlichen Bindungen zu Europa — noch immer in Afrika.

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