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Aufbruch zum Geist

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Das unvermeidliche „Denn- er-war-unser“-Geschrei, das sich seit Goethe bei jeden journalistisch verwertbaren Todesfall erhebt, hatte sich Kar Kraus vorbeugend verbeten; verhindern konnte er es nicht. Unc das kleine Häufchen Unglücklicher, das an jenem Junitag 1936 ir der Lothringerstraße an dem das Gesicht noch freigebenden San stand, konnte es auch nicht. Ich war einer davon. Wir mußten also, mit einer Mischung von Verärgerung und Belustigung, den Auf-

bahrungszeremonien auf Prokru- stesbahren Zusehen und begnügten uns damit, die Unmöglichkeit jeder Einordnung bestätigt zu finden.

Aufgehorcht habe ich erst, als die Pariser Studenten im Mai 1968 ihre ersten Pflastersteine warfen, oder vielmehr, als sie ihre ersten Graffiti an die Wände schmierten. Denn da war etwas, das Kraus wohl auch hätte aufhorchen machen. Da war eine Revolution, die nicht von den Erniedrigten und Beleidigten gemacht wurde, sondern von den Söhnen der Ernied- riger und Beleidiger, eine Revolution, die nicht aus physischer, sondern aus geistiger Not entsprang.

Die sozialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts, von welchen der Marxismus sich als die durchschlagskräftigste erwies, waren auf dem Boden einer Mangelgesellschaft erwachsen. Ihr erstes Anliegen betraf daher die Güter-

Verteilung. Damit war eine positive Wertung der zu verteilenden Güter gegeben. Als aber diese Mangelgesellschaft in eine Uberflußgesellschaft hinüberglitt, wäre eine Scheidung zwischen positiv zu wertenden lebenserhaltenden Gütern und überflüssigen, lebensfremden zu treffen gewesen.

Gewiß war zu Kraus’ Zeiten von einer Uberflußgesellschaft noch nicht die Rede, aber daß die Sozialdemokratie diese Wende nicht vollziehen werde, hat er an für ihn untrüglichen Zeichen abgelesen. Daher sein Ironisieren über die Anwesenheit des „roten“ Bürgermeisters Karl Seitz bei einem mondänen Gesellschaftsereignis, daher sein Einspruch gegen die Kulturpolitik der Kunststelle. So hat denn auch das sozial vorbildliche rote Wien auf kulturellem Gebiet statt des vom Sozialismus ursprünglich angestrebten ,.neuen Menschen“ nur den roten Spießer hervorgebracht, eine Art Rot- Volėe, „vom Bürgergift berauschte Parvenüs“.

Die Pariser Studenten aber waren auf der Suche nach einem Gegengift. Sie ahnten, daß es nichts hilft, die Produktionsweise zu ändern (was die Sozialisten übrigens auch nicht taten), wenn man nicht auch die Lebensweise ändert.

Wenn Kraus also die Pariser Studentenrevolte erlebt hätte, hätte er sie wohl als ein Vorgefecht jenes „Weltkriegs“ begrüßt, den er herbeiwünschte. Drei seiner Sätze, die das Ziel jenes Weltkriegs bezeichnen, hätten an den Mauern von Paris ihren Platz gehabt: „Daß das Lebensmittel nicht Lebenszweck sei. Daß der Magen dem Kopf nicht über den Kopf wachse. Daß das Leben nicht in der Ausschließlichkeit der Erwerbsinteressen begründet sei.“ Im ersten und wichtigsten dieser Sätze aber: „Daß Gott den Menschen nicht als Konsumenten und Produzenten erschaffen hat“, steht das Wort, das Kraus von den Studenten getrennt hätte, wie es ihn auch von seinem Jahrhundert trennt: das Wort Gott.

Der Hauptstrom der Studentenbewegung hielt sich an die großen Demystifikateure des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: an Nietzsche, Marx und Freud. Diese haben die Gesellschaft erschüttert, aber den Unterbau der Gesellschaft, ihren realen Materialismus, haben sie nicht berührt; denn sie alle schließen jede Transzendenz aus.

Nur Kraus erkannte, daß man die Wurzeln ausreißen muß. Nur wenn Gott der Menschen erschaffen hat, ist dessen Reduktion auf Konsument und Produzent skandalös.

Die Demystifikateure waren überwindbar, ja, sie haben, jeder auf seine Art, dem Bürgertum wertvolle Dienste geleistet. Nietzsche hat ihm das unbequem werdende Christentum austiem Wege« geräumt. Marx hat durch die unselige Verquickung des historischen Materialismus mit dem heute kaum mehr tragbaren metaphysischen seinen Gegnern in die Hände gespielt. Freud endlich hat dem Bürgertum eine bequeme Methode beigebracht, Störenfriede aus der Welt zu schaffen: indem man nämlich das Was durch das Warum ersetzt, dem unbequemen Denker psychologische Motive unterschiebt und so die Frage nach der Berechtigung seiner Aussage in den Hintergrund treten läßt.

Es waren drei Revolutionäre, deren Wurzeln in dem Boden des bürgerlichen Materialismus standen. Die Revolution im Sinne Kraus’ aber müßte Luftwurzeln haben.

Mit allen läßt sich irgendwie fertig werden, mit Karl Kraus nicht. Wie kann man mit ihm leben, wenn das Unrecht, das er anprangerte, wenn die Leiden, die er beklagte, ins Hundert- und Tausendfache gesteigert sind, wenn die Unüberwindlichen unüberwindlicher sind als je? Am Abendland hätte er wohl verzweifeln müssen. Vielleicht hätte er seine Augen nach der Dritten Welt gerichtet, vor allem nach Südamerika, wo sich eine Gesinnung zu formen scheint, die Glaube mit Tatkraft und sozialem Empfinden vereinigt.

Dieser unerfüllte Doppelanspruch aber macht, daß Kraus immer noch stört. Man scheut sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Und da man ihm nicht ins Gesicht sehen kann, beginnt man am Nörgler zu nörgeln: Antisemit, Austrofa- schist, Antifeminist und so weiter. Alle diese Aspekte sollen und müssen betrachtet werden, nichts ist tabu. Aber alle diese „Kraus und-dieses’V »Kraus und jenes’1 können leicht Bäume werden, die den Wald verbergen. Davor sei gewarnt.

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