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Aufforderung zum Mißtrauen

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Walter Momper, Berliner Oberbürgermeister in den , dramatischen Phasen des DDR-Zusammenbruches und der Wiedervereinigung, schrieb ein Erinnerungsbuch: „Grenzfall" (Verlag Bertelsmann).

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Walter Momper, Berliner Oberbürgermeister in den , dramatischen Phasen des DDR-Zusammenbruches und der Wiedervereinigung, schrieb ein Erinnerungsbuch: „Grenzfall" (Verlag Bertelsmann).

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FURCHE: Wenn Sie sich an den Abend erinnern, an dem die Mauer geöffnet wurde und alles „Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn " rief-wie haben Sie sich damals Deutschland in zwei Jahren vorgestellt?

WALTER MOMPER: Meine Vorstellung an jenem Abend war, daß es mit zwei Staaten weitergehen und in der DDR schnell ein Prozeß der Demokratisierung einsetzen würde. Nicht, daß die Einheit so schnell kommen würde.

FURCHE: Wäre es besser gewesen, wenn es länger gedauert hätte?

MOMPER: Fürdas Selbstverständnis der DDR-Bürger ja, aber die Mehrheit wollte die Einheit und sie mußte ganz schnell kommen, denn der Ausverkauf, die Ausplünderung, fand hauptsächlich in der Zeit bis zur Währungsunion und zur Einheit am 3. Oktober statt. Es war praktisch ein rechtsfreier Raum, eine Staatsautorität gab es nicht mehr, auch keine lokale Autorität, deren Rückgewinnung geht auch heute noch unglaublich langsam.

FURCHE: Die DDR hat die freie Marktwirtschaft also von der unangenehmsten Seite erlebt?

MOMPER: Goldgräberstimmung und rechtsfreier Raum bei einer wenig trainierten Bevölkerung, das war ein großer Teil des Problems. Sie mußte im Schnellkurs lernen, mißtrauisch zu werden.

FURCHE: Wie hoch ist derzeit die Arbeitslosigkeit?

MOMPER: Von den zehn Millionen Arbeitnehmern arbeiten fünf Millionen voll. Die andere Hälfte ist arbeitslos oder in „Kurzarbeit null", was eine Vorstufe der Arbeitslosigkeit ist, eine halbe Million arbeitet im Westen, eine halbe Million ist im vorzeitigen Ruhestand, andere in Umschulungs- und Beschäftigungsmaßnahmen. Wenn man ehrlich ist, muß man sagen: Die Arbeitslosigkeit ist 40 bis 50 Prozent.

FURCHE: Wieviele Betriebe sind überlebensfähig ?

MOMPER: Der schwierige Punkt ist, daß sie im Schnitt drei Viertel der Belegschaften entlassen müssen, um westliche Produktivität zu erreichen. Dadurch entstehen die riesigen Freisetzungen. In den Werften arbeiteten 65.000 Beschäftigte, die müssen abschmelzen auf 25.000, dann können sie in der Produktivität mithalten. Aber im Automobilbau werden in die alten Hallen neue Montagelinien westdeutscher Hersteller gelegt und überall entstehen neue Autowerke, die Arbeitsplätze anbieten werden. Aber nicht auf dem alten Niveau. Die DDR-Betriebe waren überbesetzt, wie es auch die Experten nicht vorausgesehen haben.

FURCHE: Nicht einmal die DDR-Führung soll es gewußt haben.

MOMPER: Zahlen und Statistiken wurden auf allen Ebenen gefälscht. Honecker hat neulich in einem Interview gesagt, er habe immer gedacht, die Staatssicherheit habe 35.000hauptamtlich Beschäftigte gehabt und nicht gewußt, daß allein in diesem Teil des Staatsapparates 115.000 Menschen hauptamtlich arbeiteten.

FURCHE: Ist auch Wertvolles den Bach runtergegangen? Sie erwähnen in Ihrem Buch Werkskindergärten...

MOMPER: Aberdie Betriebe konnten sie sich nicht mehr leisten. Die Kosten hatten ja die Betriebe zu tragen und haben deren geringe Produktivität mit verursacht. Richtig ist, daß besonders im Bereich der Gleichstellung der Frau im Beruf bessere Voraussetzungen waren als im Westen. Was ich immer füeinen besonderen Wert hielt, ist, daß die Menschen untereinander sehr wahrhaftig waren. Es gab die große Staatslüge, untereinander ging man ehrlich miteinander um.

FURCHE: Baut sich diese Gesellschaft nun bis tief in den zwischenmenschlichen Bereich um?

MOMPER: Ich glaube, daß es eine ganze Generation dauern wird.

FURCHE: Ist ddS erwünscht?

MOMPER: Es bleiben genug Unterschiede der Mentalität. Wir möchten ja als Norddeutsche auch nicht mit den Bayern verglichen werden. Auch wird sich von dem, was in der DDR positiv war, vieles auf Deutschland auswirken. Auf längere Sicht wird auch die Bundesrepublik nicht mehr so sein, wie sie war.

FURCHE: War man in der DDR auch solidarischer?

MOMPER: Es war nicht die Ellbogengesellschaft des Westens, aber solidarisch war man nur in den Nischen Kirche, Umweltbewegung und so oder im privaten Bereich, der viel größer war als im Westen. Aber daß der Umgang insgesamt solidarischer war, würde ich bestreiten. Gegenseitige Hilfe gab es auch nur auf der Basis von Beziehungen, Tausch, Leistung, Gegenleistung. Die nichts hatten, was sie eintauschen konnten, kein Westgeld, keine Handwerksleistungen, keine raren Güter, keine Beziehungen, waren in der DDR ganz arm dran.

FURCHE: Hatte die Übernahme der DDR-Wirtschaft nicht etwas vom

Manchester-Kapitalismus an sich?

MOMPER: Es gab schlimme Auswüchse. Manche, die sich Sozialisten nannten oder SED-Bonzen waren, haben sich auf einmal aufgeführt wie die schlimmsten Manchester-Kapitalisten. Man kann auch noch immer das große Schnäppchen machen, manches wird unglaublich unter Wert verscherbelt. Andererseits werden die Gewerbemieten in Ostberlin oft wahnsinnig hoch angesetzt, weil man Marktwirtschaft mit Spekulation verwechselt. Irgendwann kommt das böse Erwachen. Man hat ja gleich nach der Währungsreform erlebt, daß sie im Osten teilweise grotesk überzogene Preise nahmen, so daß die Menschen im Westen einkauften, bis sich die Preise normalisiert hatten. Für Grundstücke, Häuser, Betriebsanteile werden noch immer oft grotesk niedrige oder grotesk hohe Preise verlangt.

FURCHE: Gab es in den letzten zwei Jahren Angelpunkte, wo es anders hätte laufen können und sollen?

MOMPER: Ich halte es noch immer für den verhängnisvollsten Fehler, daß bei Ansprüchen Rückgabe vor Entschädigung geht. Umgekehrt wäre besser, um die Investitionen flott zu bekommen. Der Betriebseigentümer wäre im Regelfall ausbezahlt worden und hätte sich anderswo wieder eingekauft. Der zweite grobe Fehler ist, daß

die Treuhand mit ihren 3.300 Angestellten 8.000 Betriebe einschließlich der landwirtschaftlichen privatisieren soll. Das kann kein Mensch übersehen, die Privatisierung und Sanierung geht viel zu langsam, über 7.000 sind noch übrig und wir werden die nächste Generation nicht nur Rechtsstreitigkeiten jeder Art aus der Einheit haben, sondern die Untersuchungsausschüsse werden uns auch noph die nächsten 20 Jahre in Anspruch nehmen. Was da alles aufgedeckt wird, wo was alles verschoben worden ist, das wird gigantisch. Die Staatsanwaltschaft geht ja schon jetzt bei der Treuhand ein und aus.

FURCHE: Weitere Fehler?

MOMPER: Man darf die industrielle Substanz der DDR nicht plattmachen. Auch wenn etwa der Schiffbau an der Mecklenburgischen Küste jetzt nicht rentabel ist. Österreich hat ja auch aus strukturpolitischen Gründen Staatsbetriebe subventioniert. Das muß für Teile der ostdeutschen Industrie auch gelten, den Schiffbau, den Braunkohletagbau, die Chemie, die Textilindustrie, Teile des Maschinenbaues, etwa den Elektromaschinenbau im Raum Berlin.

Solche Bereiche mit jeweils um 60.000 Arbeitsplätzen darf man nicht kaputtgehen lassen. Und schließlich dauerte es viel zu lang, bis das Aufschwung-Ost-Programm kam, das heißt die Haushalte der Länder und Kommunen im Osten ausfinanziert waren, sodaß die Strukturinvestitionen losgehen können. Beim Straßenbau geht es jetzt ein Jahr nach der Einheit langsam los, bei der Bahn ist es, als sei überhaupt nichts geschehen

- dabei wußten wir seit zwei Jahren, daß es die deutsche Einheit irgendwann geben würde.

FURCHE: Es gibt kein Beispiel, daß sich ein Staatswesen aufgelöst und einem demokratischen Staat angeschlossen hätte, ohne daß dies durch eine Befragung der Bevölkerung legitimiert worden wäre. Ruht da nicht politischer Sprengstoff?

MOMPER: Das Grundgesetz soll ja ergänzt werden, der Auftrag steht im Einigungsvertrag, und ich bin dafür, daß man die so veränderte Verfassung einer Volksabstimmung unterwirft, weil das Grundgesetz schon 1949 nicht vom Volk, sondern von den Länderparlamenten angenommen wurde, was unserem Verfassungsverständnis nicht mehr entspricht.

FURCHE: Das ersetzt aber doch nicht die Abstimmung über die Selbstauflösung eines Staates und dessen Beitritt zu einem anderen Staat?

MOMPER: Das Legitimationsdefizit gibt es für das Grundgesetz insgesamt und ich meine ja, daß man das jetzt heilen sollte durch eine Volksabstimmung, nachdem der Viermächtestatus und die Vorbehalte für Deutschland als Ganzes gefallen sind. Jetzt ist Gelegenheit dazu.

Mit Walter Momper sprach Hellmut Butterweck.

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