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Aufgabe oder Preisgabe?

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Das Wort „Aufgabe“ ist doppelsinnig. Es gibt Aufgaben im Sinne einer Pflicht, und dann gibt es die Aufgabe, gleichbedeutend einem mutlosen Verzicht. Bildet die Gegensätzlichkeit dieser Begriffe nicht oft ein reales Dilemma? Um auf dieses einzugehen, muß sich jeder von uns fragen: „Wer bin ich? Was habe ich zu tun? Dasselbe gilt auch für Staatswesen und so auch natürlich für unser Land, das 976 gegründet worden ist

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Das Wort „Aufgabe“ ist doppelsinnig. Es gibt Aufgaben im Sinne einer Pflicht, und dann gibt es die Aufgabe, gleichbedeutend einem mutlosen Verzicht. Bildet die Gegensätzlichkeit dieser Begriffe nicht oft ein reales Dilemma? Um auf dieses einzugehen, muß sich jeder von uns fragen: „Wer bin ich? Was habe ich zu tun? Dasselbe gilt auch für Staatswesen und so auch natürlich für unser Land, das 976 gegründet worden ist

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„Österreich ist das, was übrigbleibt“, hat Clemenceau 1919 höhnisch bemerkt. Es scheint aber, daß auch unser Volk damals eine bedauerliche Formatsverminderung erfahren hat, die mit der Zeit noch deutlicher geworden ist. Ein geschichtlicher Rückblick zeigt Größe und Ruhm, Abstieg und Tragik mit dem Namen eines weltumspannenden

elsässisch-schweizerisch-lothringi-schen Herrscherhauses eng verknüpft. Ohne diese Dynastie würde selbst das heutige Österreich nur von Grammatneusiedl bis Attnang-Puchheim reichen. Wenig Entscheidendes ist in Europa seit dem Anbruch der Neuzeit ohne das „Haus Österreich“ und die kaiserlichen Erblande geschehen, die zum Schwerpunkt des Heiligen Römischen Reiches wurden.

In diesem Bereich waren die „Erblande“ der „Mittelpunkt der Mitte“ und so liefen auch hier alle Fäden zusammen. An der Südgrenze Kärntens begegneten sich Germanen, Slawen und Romanen in einem Punkt und östlich von Wien die Welt der Katholiken, Evangelischen und Orthodoxen.

Der größere Teil Österreichs ist Kolonialboden, Stammpreussen war restlos Kolonialland. Im Ringen dieser beiden Staatswesen erlitt das deutsche Volk durch die Siege des Nordens dauernde Verluste. Im österreichischen Erbfolgekrieg bekam das mit Frankreich verbündete Preußen Schlesien, und damit schwand die deutsche Mehrheit in den Ländern der Wenzelskrone. 1919 und 1945 wurde dafür schwer gebüßt. 1866 erhielt das besiegte Italien dank der preußischen Allianz ganz Venetien. 1866 kam die Niederlage der groß-deutschen Idee. Von da an waren alle Weichen falsch gestellt.

Das Drama Mitteleuropas führte von 1745 über 1763, über die Liquidierung des Heiligen Römischen Reiches 1806 und den Zusammenbruch des Deutschen Bundes 1866 steil und unerbittlich wie eine griechische Tragödie zum Ersten Weltkrieg. Aber schon vorher war die Tradition des Heiligen Reiches auf Österreich übergegangen: der Doppeladler, die schwarz-goldenen Farben, die Volkshymne, die Prärogativen in Rom, der übernationale Charakter verlagerten sich nach Wien. Und mit dem Ersten Weltkrieg erlebten wir tatsächlich den „Zweiten österreichischen Erbfolgekrieg“ (Dennis Brogan), während das letzte große Ringen das dritte in dieser bösen Serie war.

Aber wie kam es zur Teilung? Rückblickend muß man sich daran erinnern, daß die Donaumonarchie zu gutem Teil deswegen zugrunde gegangen ist, weil sich die Leute sprachlich-kulturell zu beschnüffeln begannen und der kollektivistische Nationalismus den patriarchalen Patriotismus ersetzte. Dazu kam noch ein weiterer Umstand: die Unmöglichkeit, von einem geschichtlich gebildeten Böhmen, Ungarn oder Kroaten zu verlangen, „österreichisch“ zu fühlen, da seine staatlichen Traditionen doch bedeutend älter waren als unsere Staatsymbolik. Drittens muß man unsere Indolenz, vermischt mit einer unbestreitbaren Arroganz den „Nationalitäten“ gegenüber, erwähnen — denn wer von uns lernte deren Sprachen? Ein vierter Faktor des Zusammenbruchs war der weit verbreitete, weltanschaulich begründete Haß gegen die alte Monarchie. Man erinnere sich, daß Poincare am 6. August 1914 in sein Tagebuch notierte, wie, während die deutschen Armeen auf Paris marschierten, Clemenceau in der Kabinettssitzung nur an Österreich dachte und auf Österreich schimpfte. Den Haß auf Österreich gab es in London, Washington, Paris, Petersburg, Rom — von jenem in Belgrad und später in Prag ganz zu schweigen ...

Doch mit der grausamen Verkleinerung Österreichs im Jahre 1919 waren unsere Probleme noch lange nicht zu Ende. Die erste Reaktion auf den Schock war das Bestreben, aus der Geschichte auszusteigen, also sich selbst aufzugeben. Konstituiert wurde „Deutschösterreich“ als Teilstaat der Deutschen Republik.

Zum „Anschluß“ gab es allerdings eine Alternative: die „Verschweize-rung“, wobei in diesem Ausdruck ein totales Mißverstehen der einzigartigen Rolle der Schweiz, einer „militärischen Demokratie“, lag.

Gibt es aber ein österreichisches Selbstverständnis? Es genügt nicht, unseren Kindern einzubläuen, daß wir überall als hochmusikalische Ski-Nation gälten und daß der Schilling eine äußerst harte Währung sei. Fangen wir vielmehr damit an, daß die Slawen einst bis in die Nähe von Salzburg siedelten. So ist auch der Rumpf Kleinösterreichs melancholisch, die Wiener Musik weint, das Gespenstige ist bei uns ebenso zuhause wie das Skurrile, die Lustigkeit ist eine Maske. Nicht zu übersehen sind da die geisterhaften Einflüsse aus Böhmen, die oft kopierte Elastizität der Italiener. Freilich, Tirol und Vorarlberg sind sehr anders. Da schwingen in der Sprache keine weichen östlichen Töne mit.

Auch das kleine Österreich ist ein Land des Spaltbewußtseins und der endlosen Widersprüche. Die Österreicher sind in der Welt, zum Unterschied von ihrem alten Staat, „beliebt“, aber wenig respektiert. Man kennt sich nicht aus mit ihnen und sie mit sich selbst am wenigsten. Das kommt vor allem aus einer fehlenden Übersicht. Man weiß nicht, an was man glauben, deshalb auch nicht, an was man festhalten, soll, und wenn es dann eine Sache gibt, der man sich restlos widmen möchte, tut man dies im Fanatismus des Augenblicks. Aber wie tief sitzt diese Überzeugung? Das heisere Gebrüll beim Nazieinmarsch war bald vergessen. Der Norddeutsche verkauft sich mit Haut und Haar, der Österreicher vermietet sich nur, weil in sein zerrissenes Gemüt und sein konfuses Denken sich nichts Festes einordnen läßt. Zum Mut braucht man Überzeugungen.

Der Herr Karl muß also richtig interpretiert werden. Er ist kein totaler Schweinehund, sondern eine für den Augenblick ehrlich überzeugte Wetterfahne — und darum drückt ihn ja auch kein schlechtes Gewissen. Damit ist auch eine gewisse Ähnlichkeit verbunden: man hebt sich solcherart nicht unangenehm in höchst störender Weise von seiner Umwelt ab.

Nun ist aber der Österreicher, der Alpenländer wie der Wiener, außerordentlich begabt. Es tauchen österreichische Talente in oft wenig erwarteten Bezirken auf. Niemand wird in den Österreichern primär ein Volk von Händlern und Geschäftsleuten sehen, und doch haben österreichische Wirtschafts- und Finanztheoretiker Weltruf erlangt. Man denke da nur an Böhm-Bawerk, Menger, Mises, Hayek. Wenn man das' Wort „Wiener Schule“ (im Ausland !) fallen läßt, so bleibt immer zu klären, welche dieser Schulen gemeint ist: die wirtschaftstheoretische, die medizinische, die philosophische, die anthropologische? Die Wiener Schule der modernen Malerei oder der Musik?

Haben aber österreichische Talente im eigenen Land Anerkennung gefunden? Selten. Woran wiederum unser häßlichstes Laster Schuld trägt — der Neid.

Hand in Hand mit diesem Neid und, was lähmend wirkt, mit der bloßen Furcht vor dem Neid, geht die Angst vor kompromißlosen Aussagen, die hartnäckige Weigerung, „Pilger des Absoluten“ zu sein. Das hat auch mit einer mangelnden Zivilcourage zu tun, und man entschuldige dies nicht mit den vielen „Umbrüchen“ und Systemveränderungen. Die gab es auch anderswo.

Dank der Angst vor Bindungen wird das Wort Treue bei uns klein geschrieben: man denke da (etwas melancholisch!) an die Ungarn, deren halbe Geschichte ein Kampf gegen das Haus Habsburg war, und die diesem dennoch, trotz Gömbös und Horthy, größere Treue bewiesen haben als wir. Die Abneigung gegen das Absolute hat seine Vor-, aber auch seine Nachteile. Wir produzieren so gut wie gar keine Heiligen. Die letzten in der Reihe der Kanonisierten waren die eher polnische Gräfin Ledöchowska und der heilige Clemens Maria Hofbauer, der ursprünglich Dvofäk hieß und aus Mähren stammte. Extremismus, wie wir sagten, wird bei uns nur in heller Wut oder hysterischer Begeisterung toleriert. Bei Melancholikern und Raunzern besteht immer Explosionsgefahr.

Was aber wäre nun wirklich Österreichs Aufgabe? Man hüte sich vor der Skylla der Arroganz und der Charybdis der Ohnmachtsgefühle. Eine überhöhte, wenn auch tragische Erfassung Österreichs, außer bei sensitiven Dichtern, ist sehr selten. Anderseits blühen aber auch die Minderwertigkeitskomplexe. So ist die Existenz von Bismarckplätzen in unseren Städten reiner Masochismus.

Der Autor des „Manns ohne Eigenschaften“, Robert Musil, schrieb: „Das österreichische Antlitz lächelt, weil es keinen Muskel mehr im Gesicht hat.“ Ein strenges, aber zutreffendes Urteil, denn bei Verbindlichkeit ohne die Verbundenheit der Verpflichtung gibt es kein Wachstum. Verbunden wird all dies womöglich mit einer kleinlichen Niedertracht, die beklemmend wirkt. Als der frühere Kronprinz vor 15 Jahren sich zu seiner Loyalitätserklärung entschloß, um nach Österreich zurückkehren zu können; bekam er über tausend ihn zur Heimkehr aufmunternde Briefe, aber auch über hundert negative Zuschriften. Jedoch nur zwei dieser reizenden Absagebriefe waren signiert. Der Empfänger setzte sich zum Schreibtisch und lobte die beiden Dissidenten für ihren Löwenmut. Doch siehe da, die Courage war nur zum Teil echt, denn einer der Briefe kam zurück: Unterschrift und Adresse waren beide fingiert gewesen. Wir haben eben Männerknie, die selbst vor vakanten Fürstenthronen zittern... ■

Nun aber gibt es keine Mission eines Landes ohne Selbsterkenntnis, ohne Rückgriff auf die Vergangenheit. Unserer Geschichte aber wird davongelaufen, nicht nur, weil peinlicherweise der Urgroßvater den Kaiser, der Großvater die Erste Republik, der Onkel den Ständestaat, der Vater den „Führer“ verleugnet hat, also Apostasie am laufenden Band betrieben wurde, sondern weil „man“ mit der Geschichte nichts anzufangen weiß und nichts anfangen will. Mit Pillen und Fristenlösung werden wir vielleicht doch noch ein osmanisches Paschlik werden, mit Montenegrinern und Makedoniern als Notabein.

Der alte Doppeladler blickte nach West und Ost. Er sah in den deutschen Raum, der uns kolonisiert hatte, und in den slawisch-ungarischen Raum, in den wir vorgestoßen waren. Dienstbeflissen und eilfertig bemerkt dazu der Spießer, daß die Vereinigten Staaten Europas „sowieso“ kommen müßten. Man könne dann ohne Ausweis nach Lappland fahren und zollfrei Gipsfiguren aus Sizilien einführen. So einfach ist das aber nicht: man erinnere sich an den immer noch nicht abgeschlossenen, wilden Kampf der Jurassiens gegen den Kanton Bern. Nicht nur die Wände des Hauses müssen in Ordnung sein, sondern auch die Einteilung der Wohnungen.

Was also soll man tun? Was einführen? Vor allem eine positive, in die Tiefe gehende geschichtliche Unterweisung durch die Schulen, aber auch durch die Medien, dann aber ein verstehendes Schauen über alle Grenzen hinaus. Wenn der angeblich so wohlinformierte Österreicher nur wüßte, wie man heute selbst in Altitalien und auch anderswo jenseits der Grenzen unserem alten Staat nachtrauert! Wir waren immer ein Land der versäumten Gelegenheiten!

Stets gilt es in Österreich, die Potenzen auszuschöpfen. Es ist so viel vorhanden — nur liegt alles brach. Wenn man ehrlich wollte, hätte man nicht nur eine Heimat, sondern selbst ein Vaterland, worunter man aber nicht eine —• gefräßige — Milchkuh verstehen sollte. Und das Wollen ist möglich. Das Jahr 1934 war, wie man es nimmt, nicht nur ein furchtbares, sondern auch ein glorreiches Jahr, denn da haben Österreicher aller Lager ihr Leben eingesetzt.

Das tausendjährige Österreich ist also doch ein Reich und nicht ein Land, und das heißt, eingedenk der Vergangenheit, Aufgaben bewältigen. Daher wäre bei uns nicht nur eine geschichtliche Bewußtseinserweckung von höchster Wichtigkeit, sondern viel mehr noch die charakterliche Erziehung. Wiederholen wir also die Worte eines kaiserlichen Untertans, des Schlesiers Angelus-Silesius: „Mensch werde wesentlich: denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg — das Wesen, das besteht.“

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