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Digital In Arbeit

Aufgeben oder Aufgabe?

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Die Konventionen und Fesseln der soziokulturellen und demographischen Entwicklung haben das 60. Lebensjahr zur magischen Zahl manipuliert, die den Menschen als „effektiven" Senior und potentiellen Pensionisten ausweist, ohne Rücksicht auf sein biologisches Alter, seine tatsächliche Leistungsfähigkeit und -motivation sowie seinen Stellenwert für die Berufswelt.

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Die Konventionen und Fesseln der soziokulturellen und demographischen Entwicklung haben das 60. Lebensjahr zur magischen Zahl manipuliert, die den Menschen als „effektiven" Senior und potentiellen Pensionisten ausweist, ohne Rücksicht auf sein biologisches Alter, seine tatsächliche Leistungsfähigkeit und -motivation sowie seinen Stellenwert für die Berufswelt.

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Mit 65 muß der Arbeitsplatz auf jeden Fall verlassen werden. Nach dem heutigen Wissensstand beginnen aber Persönlichkeitskurve und kristalline Denkpotenz (.Altersweisheit") beim gesunden Individuum erst in diesem Lebensabschnitt ihren Höhepunkt zu erreichen, worauf die Gesellschaft verzichten zu können glaubt.

Diese erzwungene Hinorientierung auf ein bestimmtes Kalenderdatum impliziert daher in den meisten Fällen eine Krisensituation, mit welcher der Betroffene selbst fertig werden muß. Die Reaktionsschablonen schwanken zwischen Isolation, Resignation und krampfhafter Überaktivität mit Profi-lierungssucht in der Art der Torschlußpanik. Auch autobiographische Rechtfertigungsversuche sind beliebt und als eine Art Vorwegnahme der Selbstabrechnung unmittelbar nach dem Tode, wie sie nach katholischem Glauben als besonderes Gericht stattfindet, interpretierbar. Die zu Lebzeiten erfolgende Bilanzziehung in leistungsmäßiger und moralischer Hinsicht ist nicht nur Ausdruck einer Bewältigungsstrategie, sondern auch bewußte oder unbewußte Vorbereitung für das Unabwendbare. Diese kreativ zu akzeptieren, ist konstruktiver als es zu ignorieren oder zu ver? nachlässigen.

Freiheit ist die Wissenschaft noch weit davon entfernt, die menschlichen Verhaltensweisen in ihrer ganzen Variationsbreite und Entfaltungsmöglichkeit ausloten zu können. Eines steht jedenfalls fest: Der Tag muß genützt werden, denn schnellen Schrittes enteilet die Zeit („carpe diem, cito pede labitur aetas"), je später es geworden ist, desto rascher zerrinnt die Gegenwart. Und mit dem Dahinschwinden des Zeitrahmens werden die Möglichkeiten für die Realisierung von irdischen Vorhaben oder gar für Korrekturen des Lebenskurses naturgemäß immer geringer; sie sollten daher im Sinne des Schöpfungsauftrags einer positiven Mitgestaltung des persönlichen Schicksals zeitgerecht wahrgenommen werden, bevor man durch Krankheiten oder vorzeitigen Tod daran gehindert wird.

Die Grundfragen, die man sich hierbei vorzulegen hat, lassen sich auf den einfachen Nenner bringen: Was habe ich bisher getan und wie ist dies zu bewerten und: Was kann ich noch tun? Bei allem inhärenten Egoismus und Hang zur Schönfärberei verfügt unsere menschliche Natur grundsätzlich über die Kritikfähigkeit, die eigene Leistungsbilanz auch nach sozialen und ethischen Kriterien zu beurteilen. Bereits aus irdischer Sicht werden wir daran gemessen, was wir aus unserem Leben für andere und nicht nur für uns selbst gemacht haben.

Gerade an der Schwelle zum Seniorenalter steigert sich die Fähigkeit zur Artikulierung jener Lebenserfahrungen, die den produktiven Manifestationen der species homo Übersicht, Klarheit, Weitblick und Allgemeingültigkeit verleihen. Der heutige Wissensstand ergibt ein prinzipiell positives Bild vom dritten Lebensalter, dessen Herausforderung zum persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen angenommen werden sollte: Ein Leben ohne Aufgabe bedeutet Aufgeben!

Die Richtigkeit dieses Grundsatzes läßt sich beispielhaft an der Tatsache beweisen, daß Krankheiten durch optimitische Lebensauffassungen verhindert oder gelindert werden und umgekehrt Leiden durch Pessimismus heraufbeschworen oder verschlimmert werden können.

Unter diesen Gesichtspunkten muß man von einer Verpflichtung zur positiven Lebenseinstellung und nicht nur von Chancen für den Senior sprechen.

Umgekehrt fällt der Gesellschaft hierbei die Aufgabe zu, dieses Wissen an den einzelnen zu vermitteln und gleichzeitig für eine möglichst optimale Qualität der Lebensbedingungen in jedem Alter sorgen. Der Mensch hat eben eine Doppelfunktion als Individuum und zoön politikön zu erfüllen. Diese Grundeigenschaft ist ja auch die Voraussetzung für die Überwindung aller persönlichen und gesellschaftlichen Krisen und für einen Reifeprozeß der höheren Vernunft unserer Gattung zum eigenen Heil und zu jenem künftiger Generationen. Und eines ist sicher: Noch niemals in der Menschheitsgeschichte war kristalline Denkpotenz und Handlungsweisheit so gefragt wie jetzt! Univ. Prof. Prim. Dr. Karlheinz Klein ist Internist und Geriater.

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