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Aufklärung kann schaden

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Der Ausdruck Aufklärung ist schon nicht ganz korrekt. Er signalisiert, daß sich alles so abspielt, daß etwa Vater und Sohn eine Stunde vereinbaren, wo nun die Aufklärung vollzogen wird. Ich ziehe den Ausdruck Erziehung zur Sexualität vor. Denn im Grunde genommen geht es darum, daß Kinder von ihren ersten Lebenstagen an von Eltern und Erziehern darauf vorbereitet werden, daß sie einmal ein reifes beglückendes Sexualleben zu führen haben.

Ob man mit Aufklärung schädigen kann? Das muß ich eindeutig mit ja beantworten. Das trifft zu:

• Wenn man es dumm macht und

• wenn man es zum falschen Zeitpunkt macht...

Im Zuge seiner Entwicklung hat der Mensch Phasen, in denen ganz bestimmte Triebbedürfnisse auf Erfüllung drängen. So gibt es etwa eine exhibitionistische Phase im Kleinkindesalter.

In diesen Phasen prägt sich nun wie ein Stempel ein gewisses Verhalten in das Repertoire dieses Menschen ein. Im Zuge des Heranreifens werden das immer * mehr formende Kräfte, die da einwirken, bis schließlich in der Nachpubertät dieses ganze Konzert an Gefühlen unter das Primat der genitalen Sexualität gestellt wird.

Im Zuge dieses Durchspielens der verschiedensten Wege des Kontaktes, der Beziehung behält die Seele des Kindes einiges zurück, was diese psychische und körperliche Veranlagung des Menschen ausmacht.

Ein Fachausdruck dafür sagt folgendes: Jeder Mensch hat „gebundene Vorlieben“. Jeder Mensch hat also ein individuelles Repertoire, wie er sich in der sexuellen Kommunikation wohlfühlt, benimmt.

Diese gebundenen Vorlieben entstehen nun ganz individuell, und sie sollten dem Prozeß der Selbstfindung des Menschen überlassen werden.

Wenn man nun eine „Normalsexualität“ vermitteln will, greift man in diesen Prozeß ein, in dem jeder Mensch zu sich selber findet. Dann sind die gebundenen Vorlieben nicht mehr dem Menschen eigen, sondern übernommen von irgendeinem Aufklärer, der einem gesagt hat, so gehe es lang.

Da die sogenannte „normale Sexualität“ nicht zu beschreiben ist — beschreiben läßt sich nur die pathologische —, habe ich gewisse Bedenken dagegen, Richtlinien zu geben, wie man Sexualität leben soll...

Es ist erstaunlich, welche merkwürdigen Fragen einem gestellt werden. Und in dieser Hinsicht gehen alle diese genormten Aufklärungen daneben.

Diese Fragen kann man nur bei einer intimen Kenntnis des Innenlebens des Kindes beantworten. Ich bin der Auffassung, daß die Eltern — würden sie es tun — die besten Aufklärer wären, die es gibt. Die einzigen eigentlich, die dazu berufen sind.

Ich stelle nicht infrage, daß die Schule eine Aufgabe zu erfüllen hat. Ich glaube nur, daß man auf zwei Umstände wird achten müssen:

• Wenn man einer Gruppe von 20 jungen Menschen gegenübersteht, so hat man da Menschen vor sich, die psychisch verschieden und in unterschiedlichen Entwicklungsstadien hinsichtlich ihrer Sexualentwicklung sind. Geht man da frontal die Sache an, so macht man etwas falsch. Denn man wird der Notwendigkeit zu individueller Sexualerziehung nicht gerecht.

• Das zweite Problem, das man sehen muß: Auch der, der aufklärt, hat eine eigene Sexualentwicklung durchgemacht. Er hat eine ganz bestimmte Einstellung zu den Problemen der geschlechtlichen Beziehung zwischen Mann und Frau. Und er wird daher unweigerlich seine eigene Einstellung mit hineintragen.

Diese beiden Probleme muß man bedenken, wenn man an ein so heikles Unternehmen herangeht.

Der Autor ist Professor für Psychiatrie an der Universität Wien. Seine Ausführungen sind ein Auszug aus einem Interview im „Journal Panorama“ in „0 1“ am 27. Juli 1988.

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