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Aufruhr der Seele, neues Welttheater

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Am 27. Juli wird eines der wichtigsten Dramen des Jahrhunderts in festlicher Besetzung wieder aufgeführt. Was hat dieses Bühnenstück dem heutigen Publikum zu sagen?

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Am 27. Juli wird eines der wichtigsten Dramen des Jahrhunderts in festlicher Besetzung wieder aufgeführt. Was hat dieses Bühnenstück dem heutigen Publikum zu sagen?

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„Wir haben der kommenden Generation etwas anderes zu sagen als das Wort Tradition.” Dieser Ausspruch Paul Claudels widerlegt die landläufige Ansicht, seine Dichtungen seien barock oder zumindest neobarock, erratische Blöcke in der Landschaft der Moderne. Gewiß, mit seinen Zeitgenossen, selbst mit denen des „nouveau catholique”, der großen französischen Erneuerungsbewegung um die Jahrhundertwende, hat er nichts gemein.

So wenig seine diplomatische Laufbahn der Vorstellung entspricht, welche die Allgemeinheit vom Privatleben eines religiösen Dichters hat, so wenig hat seine eigenwillige, aber dabei grundkatholische Weltanschauung mit Begriffen wie konservativ oder progressiv zu tun. Sein Theater hat man mit Recht Welttheater genannt, aber das bedeutet deshalb keine Identifizierung mit dem Welttheater des Barock, sind doch alle epochemachenden Bühnenwerke, sich hinwegsetzend über die Begriffe von Raum und Zeit, Welttheater — Shakespeare ebenso wie die alten Griechen.

Die Eigenwilligkeit seiner Persönlichkeit als Christ und Künstler ist es, die den Zuschauer oder Leser oft befremdet und irritiert. Es mag für die vielen, die Claudel heute schon zu den Autoren von gestern zählen wollen, paradox klingen, daß nicht er, sondern wohl das Gros des religiös gleichgültigen, aber auch des bewußt katholischen Publikums in Kategorien von gestern denkt, während er selbst unserer Zeit noch voraus ist. Für ihn bedeutet Christentum weder bürgerlicher Humanismus noch puritanische Moral, sondern Religion im ursprünglichen Sinn des Wortes: Bindung an Gott, Wissen, eine Figur im großen Heilsplan zu sein, in dem das „fiat voluntas tua” die Aufgabe des Menschen ist. Denn der Wille Gottes muß durch den freien Willen des Menschen erfüllt werden.

Das bedeutet Abkehr von jeder Form von Eigennutz, jedem Streben nach persönlichem Glück und wenn es sein muß, bereit sein zu Opfer und Duldung.

Was aber Claudel am schärfsten von herkömmlichen Meinungen unterscheidet, ist sein Begriff vom Bösen. Für ihn existiert kein Dualismus, sondern das Böse, die Sünde, gehört ebenso zu Gottes Plan wie das Gute. Das Bibelwort „Es muß Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den Ärgernis kommt” spricht wie kein anderes die Tragik menschlichen Daseins aus: Hier befreit die Frohe Botschaft, nach der selbst das Opfer eines fremden Menschen im Sinne des Kreuzestodes Christi auch den erlösen kann, der das Ärgernis gebracht hat, bringen mußte.

In Claudels viele schockierendem Weltbild ist auch die Sünde notwendig im Plan Gottes: „Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.” Dieses Motto zu seinem bedeutendsten dramatischen Werk, dem „Seidenen Schuh”, rollt sein Weltbild auf: Geschichte erhält ihren Sinn erst durch ihre Einordnung in den großen Heilsplan, so wie jeder einzelne innerhalb der Geschichte seinen Platz finden muß. Die Divergenz zwischen seinem Eigenleben und seiner Aufgabe wird zum Drama des Menschen, so wie der Widerspruch zwischen weltlicher Politik und göttlicher Planung zum Drama der Geschichte wird.

Dieses Raum und Zeit überschreitende Welttheater, wie es Claudel im „Seidenen Schuh” aus seiner Phantasie geschaffen hat, dieses Universum von Sinnlichem und Ubersinnlichem, von Tragischem und Komischem, lebt aber — sonst könnte es auf der Bühne nicht bestehen - durch eine strenge dramaturgische Struktur. Der Formenreichtum, der Claudel zur Verfügung steht, und der in dem 1924 vollendeten Werk viele in der zweiten Jahrhunderthälfte als neue Ismen bühnenbeherrschend gewordene Gattungen vorweggenommen hat, ist bei allem Spiel genau geplant. Und so wie die Ordnung sein Prinzip in der

Kunst war, so auch in der Welt. In seinen Tagebüchern schreibt Eugene Ionesco:

„Ich wußte immer, daß Claudel ein großer Dichter war. Jetzt habe ich mit einem Male begriffen, daß Paul Claudel gewiß der größte-Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts ist; nicht nur durch hohe literarische Qualität eine unvorstellbare Kraft des Ausdrucks, eine tragische Größe, wie man sie sonst nur bei den wenigen ganz großen Dichtern der Weltliteratur findet, sondern (und vielleicht vor allen Dingen) durch seine Macht, die Werte wieder an ihren genauen Platz in der Hierarchie der Weltordnung zu setzen.”

Daß aber alle Härte, die Claudel vom Menschen im Kampf gegen sich selbst fordert, daß alle Strenge der Ordnung erst in der Liebe ihre Erfüllung findet, das beweist er uns nicht nur mit der berühmten Stelle aus seinen Prosaschriften, wo er betont, daß das Kreuz erst vollkommen wird durch Magdalena zu Füßen des Heilands („Christus und Magdalena sind für alle Zeiten nicht mehr von einander zu trennen”), sondern vor allem im „Seidenen Schuh” durch das Liebespaar Dona Proeza und Don Rodrigo, das nicht zusammenfinden kann, weil jede irdische Erfüllung vergänglich wäre, ihre Liebe aber alle Zeiten überdauern soll.

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