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Aufsässige Kinder bekommen keine Strafe mehr

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Zwischen Mittwoch, 6. Mai 1953, und Donnerstag, 16. August 1956, geschah in dem Dorf noch nichts Alarmierendes. Oder doch? Ein Bächlein wurde durch eine Betonröhre, eine gewölbte alte Brücke durch eine moderne ersetzt. Einige Neubauten entstanden. Auch am Freitag, 20. November 1959, war die Gegend noch bäuerlich — doch ein schönes altes Haus wurde gerade abgerissen, ein romantisches Wäldchen abgeholzt. Am Samstag, 19. Jänner 1963, war die Gegend nur noch an einem letz-

ten romantischen alten Haus zu erkennen, dem allerdings riesige Öltanks auf der einen, eine Fabriks- halle auf der anderen Seite immer näher rückten. Am Sonntag, 17. Arpil 1966, war es wirklich nur noch ein Fremdkörper in einer sterilen Industrielandschaft. Am Montag, 14. Juli 1969, war gerade ein Bagger dabei, es niederzureißen. Noch gab es etwas Gras, doch wiederum drei Jahre später, am Dienstag, 3. Oktober 1972, gab’s Gras nur noch zwischen den Betonbändern der quer durch das Bild führenden Autobahn, und auch der Rest war Beton.

Sieben große Faltbilder in einer Mappe, die „Alle Jahre wieder saust der Preßlufthammer nieder oder Die Veränderung der Landschaft“ heißt und für die Jörg Müller, ein in Frankreich lebender Schweizer, den Deutschen Jugendbuchpreis 1974 bekam (Verlag Sauerländer, Frank- furt/Aarau, 16.80 DM). Und die durchaus geeignet erscheinen, Kindern die negativen Aspekte der Modernität vor Augen zu führen. Hatten sie auf dem ersten Bild die ganze Landschaft zum Tollen, so bleibt für sie im letzten Bild nur noch eine Sandkiste in einem Winkel der Betonwildnis. Der Bildausschnitt zeigt immer dasselbe Stück Land. Land? Sein Ende. In der Tat: Man sollte diese sieben Bilder in den Schulen aufhängen. Sie schärfen den Blick für die Umwelt.

Generell ist es schwer, aus den Neuerscheinungen dieses Herbstes auf dem Gebiet des Kinderbuches einen, „Trend“ abzulesen — außer, vielleicht, einem langsamen, viel zu langsamen Terraingewinn jener Zeichner und Textautoren, die nicht nur das konventionelle, noch immer vorherrschende Schema durchbrechen, sondern überdies mehr anstreben als krampfige Originalität. Kinderbücher, die man seinen Kindern wirklich mit gutem Gewissen in die Hand drücken kann, erscheinen immer wieder in, derselben Handvoll von Verlagen. Immerhin, die Auswahl nimmt zu.

Der optimale Zusammenfall guter Texte und Illustrationen ist noch immer ein seltener Glücksfall. Und es ist nicht nur verständlich, sondern auch durchaus positiv zu werten, wenn etwa die Geschichten von Rudyard Kipling immer wieder neue, hervorragende Künstler zur Neuillustration anregen. Sollte etwa der entzückende Band „Wie der Elefant seinen Rüssel bekam“ mit den Illustrationen von Heinz Looser (Büchler-Verlag, Wabern) im Kinderzimmer schon vorhanden sein, wäre das alles andere als ein Grund, nun nicht auch die von Ėtienne Dėlės- sert übersetzten Kipling-Geschichten

„Und das war so“ … (Verlag Middel- hauve, Köln) zu kaufen. Es enthält vier der Kiplings chen „Just-so- stories“: „Wie der Leopard an seine Flecken kam“, „Wie das Elefantenkind zu seinem Rüssel kam“, „Wie der Wal an seinen Schlund kam“ und „Wie das Gürteltier entstanden ist“. Das sind Geschichten, die Kinder immer wieder lesen können. Die Illustrationen bestehen, sowohl vor kindlichen wie auch vor erwachsenen Ansprüchen, was ja selten zusammentrifft. Ich finde die Übersetzung von Jürgen Becker weder so poetisch noch so pointiert wie die seinerzeitige leider anonyme, aber ein Vergleich zweier Übersetzungen einer Geschichte kann, dem kindlichen Spracheimpfinden nur nützen.

Walter Schmögner ist auch ein großer Künstler des Wortes, das zeigt. „Das Guten Tag Buch“ (Insel- Verlag, 18 DM) über jeden Zweifel erhaben. Ein Buch hart an der Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenenbuch, vielleicht ein Erwachsenenbuch, das man seinen Kindern einfach vorlesen muß. Ein überaus sparsam, fast unter graphischer Selbstverleugnung illustriertes Buch vom Gespräch der Dinge in einem Zimmer, dessen Bewohner vor einem Jahr im Alter von 99 Jahren gestorben ist. Ein Buch, das stellenweise an den „Kleinen Prinzen“ von Saint- Exupery heranreicht, vielleicht sogar streckenweise oder überhaupt, das wird man erst nach mehrmaligem Lesen wissen. Es ist ein Buch von Güte, Liebe und Traurigkeit. Ein Dialog der Dinge, die die Eigenschaften ihres Herrn angenommen haben — und ein Buch von der Vergänglichkeit.

Eine sehr positive Entwicklung ist im Parabel-Verlag festzustellen.

Nichts gegen „linke“ Kinderbücher, wenn sie dem Verstand des Kindes das geben, was ihm gewisse konventionelle Produkte schuldig bleiben. Aber alles gegen pseudolinke Sackgassen, gegen „Zehn kleine Negerlein“, die gut gezeichnet, aber so hundsordinär geschrieben waren, daß man sie seinen Kindern halt leider nicht geben konnte, geigen „Da kommt der Willibald“ — eines jener agitatorischen Bücher, in denen Bauarbeiter den Bauunternehmer davonjagen und schöne Luxushäuser für arme Menschen bauen, und wo Kinder für zu dumm gehalten werden, um zu fragen: „Wo nehmen die Bauarbeiter aber nun das Baumaterial her?“ Die neue Parabel-Produktion kennzeichnen Bücher wie „Wir können noch viel zusammen machen“ von, Friedrich Karl Wächter, ein Buch von Tierkindem verschiedener Gattungen, die miteinander spielen möchten, obwohl das Fischlein nicht fliegen und das Ferkel nicht schwimmen und der kleine Vogel nicht tauchen kann. Eine Geschichte voll Phantasie. Ihr eigentlicher Inhalt heißt Toleranz.

Ebenfalls im Parabel-Verlag, München, und ganz wortarm, dafür exzellent gezeichnet: „Saladusala-bim“ von Etienne Bruneei. Eine Bildergeschichte vom Aufbau eines Zirkus und vom großen, gelb-quergestreif- ten Zauberer-Clown-Tausendsassa, der sich zuletzt mit einer Kanone in den Weltraum schießen läßt — und dem der Mond in der Hand zerschmilzt.

Kurzgeschichten, Epigramme, Bonmots für Kinder, darunter die Erzählung von einem vollen Bauch, der einem Hunger so lange gute Ratschläge gibt, bis er von ihm verspeist wird: In dem Band „Wer viel fragt, kriegt viel gesagt“ von Christoph Meckel und Alfons Schweiggert (14 DM). Hier ist links Herausforderung — aber des Denkens, und nicht des Geschmacks. Eine absurde Geschichte, wie sie Kinder mögen (wer würde nicht ganz gern seinen Schatten selbständig Spazierengehen sehen?): „Ein Schatten fiel vom Pflaumenfoaum“ von Marta Koci. Nett eher im konventionellen Sinne die Geschichte von einem kleinen Buben, einem alten Diwan und einer Maus: „Iwan Diwan“ von Marta Koci und Irina Korschunow. (Alle: Parabel-Verlag, München.)

Ein reichgefächertes Angebot von Neuerscheinungen an Kinder- und Jugendbüchern sowie an Spielen kommt wie immer aus dem Otto

Maier Verlag in Ravensburg, der ja bekanntlich auch jeweils mit dem Neuesten der Erziehungsliteratur auffährt (wesentlichste Neuerscheinung auf diesem Sektor: „Die verräterischen Spiele der Kinder — Kinderspiele als Verhaltensäußerung“ von A. H. Chapman, ein Buch, das den Blick dafür schärft, ob in der Beziehung mit Kindern ein Fehlverhalten eingerissen ist). Aus Ravensburg kommt auch das bemerkenswerteste neue Kinderbuch von der Wahre-Geschichten-Sorte: „Die Geschichte vom Wasserfall“ von Margret Rettich. Dem Thema angemessen auf eine sehr raffinierte und moderne Weise „altmodisch“ illustriert, erzählt dieses Buch die Geschichte eines armen Schweizer Gast wirtssohnes, der nach New York auswandem muß und nach einem Leben harter Arbeit mit seinen drüben geborenen Kindern heimkehrt — und hier sein Glück macht, indem er in siebenjähriger Schwerstarbeit mit 8000 Sprengladungen einen Tunnel zu einem unzugänglichen Wasserfall! hinter seinem Haus freilegt und damit eine Ausflugsattraktion schafft, von der er und seine Nachkommen leben können. Eine Geschichte, die erfunden klingt — und die Wort für Wort stimmt. Audi die Namen stimmen. Die Kinderbuchautorin lernte die Püschen Melchiors kennen, als sie zufällig mit dem Auto an ihrem „Hotel am Wasserfall“ vorbeifuhr.

Konventioneller, aber immerhin sehr pädagogisch (im Sinne des Verständnisses gegenüber Leuten, die „anders“ sind): von Rüdiger Stoye „In der Dachkammer brennt noch Licht“. Eine recht faszinierende Entdeckung sind die nun auf deutsch vorliegenden, dm Original 20 Jahre alten Kinderbücher des Amerikaners „Dr. Seuss“ (Theodor Seuss-Geisel), die von Adolf Halbey nachgedichtet wurden.. Unprätentiös und gar nicht modern, aber mit einem großen Sinn für Komik (und typisch angelsächsisch!) gezeichnet, erzählt das neueste dieser Büchlein, „Horton hört ein Staubkorn reden“, die Geschichte eines Elefanten, der eines Tages entdeckt, daß auf einem winzigen Staubkorn eine ganze Stadt winziger Lebewesen existiert — und der große Mühe hat, sie vor den anderen Tieren zu beschützen.

Seit Generationen beliebt, und seit Generationen, im Wandel: Die Gattung des Schmökerbuches für Kinder, von den Erwachsenen „Anthologie“ oder „Sammelband“ genannt. „Die Straße, in der ich spiele“ (herausgegeben von Elinor und Hans- Christian Kirsch): Heute enthalten solche Bücher auch sehr aufmüpfige Geschichten, in denen sehr aufsässige Kinder vor- und sogar ohne Strafe davonkammen. Onkel wie der Onkel Valentin in der Geschichte von Max Balliger sollten einspringen, falls

Eltern ihren Kindern solche Bücher vqrenthalten. Eine der schönsten Geschichten dieses Bandes („Der blaue Affe“) stammt von Richard Blet- schacher. Es ist eine Geschichte, die Eltern auch dann ihren Kindern vorlesen sollten, wenn diese schon selber lesen können. Weil sie nämlich auch die Eltern angeht. Vor allem Eltern, die beim „Ausmisten“ der Spielizeugkisten zu rigoros Vorgehen …

„Das große Ravensburger Spielbuch“, das auf 360 Seiten ein wahres Kompendium der Spiele darstellt, der neuen und alten, der Spiele im Freien und der Brettspiele, und dessen Autoren (Glonnegger/Diem, 28 DM) die Kunst beherrschen, Spielregeln nicht nur verständlich,

sondern auch knapp und prägnant wiederzugeben, gehört schon eher in die Gruppe der Spiele. Hier fiel uns vor allem ein Riesen-Puzzle für die kleineren Kinder auf, das aus 35 Teilen besteht und auf dem Boden zusammengesetzt werden kann. Es hat einen ganz großen Vorteil: Angesichts eines Elefanten mit bunter Schabracke, der auf einem nicht weniger bunten Dampfer mit bärtigem Steuermann steht, macht nicht nur das Zusammensetzen, sondern auch das Ergebnis Freude. Nämlich ästhetische Freude. Auch den Eltern. Vor allem, wenn sie davon überzeugt sind, daß ästhetisches Spielzeug das ästhetische Empfinden fördert.

Neu im Ravensburger Programm ferner: „Ravensburger Familien spiele“, eine Spiele-Sammlung von Dame und Mühle über das „Memory“ bis zum lustigen „Fang den Hut“. Und eine Serie kleinerer Spiele, die sich auch preislich gut als Mitbringsel eignen und unter denen das fast vergessene, 200 Jahre alte Spiel „Glocke und Hammer“ herausragt, das mit .speziellen Würfeln gespielt wird und in verschiedenen Spielphasen eine Fülle überraschender Möglichkeiten birgt. Kinder haben immer schon gerne Gesellschaftsspiele gespielt — welche Bedeutung den Gesellschaftsspielen als Faktor der Gemeinschaftserziehung zu- komimt, weiß man erst heute.

Den Ravensburger Bastelheften (über Drachenbauen, Kneten und Formen, Weben, Folienkleben und so fort) entnehmen selbst Profis Neues — etwa die Anregung zu selbstgetöpferten Spielsteinen.

Ist das Angebot an Bilderbüchern und Spielen schwer, aber doch einigermaßen überblickbar, weil optisch erfaßbar, so ist es unmöglich, zu einem Urteil über jene Kinderbücher zu gelangen, die, nicht oder kaum illustriert, zum Lesen bestimmt sind. Eip Glücksfatl wię die Vorjahresnovität „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr (das zwar für mindestens Zwölfjährige bestimmt, ist, das man aber auch schon zeitgeschichtlich interessierten

Achtjährigen vorlesen kann) passiert nicht jedes Jahr. Heuer ragt aus der Fülle des Einschlägigen der entzük- kende Kinderroman „Holger wohnt im Zoo“ von Robert Wolfgang Schnell aus der Middelhauve-Kinderbücherei hervor: ein Buch, bestens geeignet, Kinder, die sich für Tiere interessieren, auf einen entsprechenden beruflichen Weg zu führen. Das Maximum dessen, was man jungen (und, bitte, nicht allzu jungen) Menschen an Realität zuimuten kann, ist — wegen des tragischen Ausganges — das Buch „Zwischen den Feuern“ der Amerikanerin Gail Graham. Es ist geeignet, den Krieg zu entroman- tisieren. Was leider schon wieder notwendig ist.

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