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Aufsichtsräte in Montur

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Die „Arabische Republik Ägypten“, wie Nassers „Vereinigte Arabische Republik“ jetzt heißt, hat zur Septembermitte endlich ein beständiges Grundgesetz erhalten. Dieses tritt an die Stelle der drei Verfassungsprovisorien aus den Jahren 1958, 1962 und 1964. Das erste davon war ganz auf den im März 1958 vollzogenen ersten Zusammenschluß Ägyptens mit Syrien abgestimmt gewesen, während die „Konstitutionelle Erklärung“ vom 27. September 1962 auf das inzwischen erfolgte Ausscheiden von Damaskus aus seiner Liaison mit Kairo abgestimmt war. Nassers persönlich lanciertes Verfassungsprojekt von 1964 schließlich war mėhr eine Verwaltungsordnung für den Staatsapparat und eine Betriebsanleitung für die 1961 nationalisierte und sozialisierte Wirtschaft als eine Charta der Rechte und Pflichten der Regierenden und Regierten.

Sehr zum Unterschied von dem allen entspricht das nun von Präsident Sadat dem ägyptischen Volk vorgelegte Grundgesetz im großen und ganzen modernen und konstitutionellen Erwartungen. Zwar gibt es viele Bestimmungen, die den unverkennbaren Stempel der letzten innenpolitischen Auseinandersetzung zwischen dem Staatschef und über den Tisch gewachsenen Polizei- und Parteigrößen tragen: So wird die Einheitspartei „Arabische Sozialistische Union“ in keinem der 193 Verfassungsartikel mit einem einzigen Wort erwähnt, und niemand könnte daher Sadat einen Verfassungsbruch vorwerfen, wenn er sie zusätzlich zu den bereits vorgenommenen Säube- rungsaktionen ganz aus dem politischen Leben Ägyptens ausschalten würde; zweitens wird die Polizei von Kapitel 8 den Befugnissen des Innenministeriums entzogen und direkt dem Staatsoberhaupt unterstellt. Ab gesehen von diesen beiden zentralen Entsprechungen an die interne Situation des Sadat-Regimes findet sich in dem Grundgesetz aber vom bisher fehlenden Verfassungsgerichtshof bis zum erstmaligen Aufbau einer regionalen Selbstverwaltung auf Gemeinde-, Kreis- und Landesebene alles, was selbst die sorgfältigsten Verfassungsschützer von einem demokratischen Grundgesetz erwarten. Unter den Tisch gefallen sind allerdings das Streikrecht der Arbeiterschaft und die Zulässigkeit politischer Parteien. Was die Streiks betrifft, so hatte das Kairoer Industrieministerium erst unmittelbar vor der Verfassungsvolksabstimmung am 11. September, bei Gelegenheit der Sitzstreiks in den Eisenhütten von He- luan, erklärt, daß diese mit Lohnforderungen verbundenen Kundgebungen illegal, weil gegen volkseigene Betriebe gerichtet seien. Der weitere Ausschluß politischer Parteien, die im Ägypten der zwanziger bis fünfziger Jahre über eine große Tradition im Kampf gegen den Kolonialismus und für die Rechte der ent- privilegierten Klassen verfügten, an dem sie sich von der nationalistischen „Wafd“ bis zu den Kommunisten und Moslembrüdern beteiligt hatten, macht sogar die Bildung einer „Nationalen Front“ aus arabischen Sozialisten, anderen Linksgruppen, Liberaldemokraten und Islamtheokra- ten zu ferner Zukunftsmusik.

Wenn die rund 8 Millionen der organisierten ägyptischen Wahlberechtigten — bei einer Gesamtbevölkerung von fast 35 Millionen — dem neuen Grundgesetz dennoch mit nur 1363 Neinstimmen ein selbst in Ägypten noch nie dagewesenes positives Votum gesichert haben, das durchaus glaubwürdig ist, so lag das an den zahlreichen Verfassungsbestimmungen, die dem .kleinen Mann“ unmittelbar zugute kommen. Abgesehen von dem konstitutionell verankerten Schutz für Kriegsopfer und Veteranen, von denen es in Ägypten aus dem Krieg von 1967 mehr. als genug gibt, erhalten vor allem die Arbeitnehmer Gewinnanteil und Mitbestimmungsrecht in ihren Betrieben. Bisher waren sie lediglich ein bis zweimal im Jahr mit dem Sozialgeschenk eines Bonus bei guter Leistung bedacht worden. Nun werden die Arbeiter und Angestellten zu Aktionären ihrer Fabrik oder Firma. Fortschrittliche Betriebe, wie die Großdruckerei des halboffiziösen „Al-Ahram“, hatten ihre Drucker und Redakteure bereits seit Jahren am Gewinn beteiligt

Ist diese Ausschüttung von Dividenden an die Belegschaft in Hinblick auf die niedrigen Löhne auf dem ägyptischen Arbeitsmarkt eine soziale Notwendigkeit, so wird die parallel verfügte Besetzung der halben Aufsichtsratssitze mit Arbeitnehmern nur dann fruchtbar werden, wenn diese neuen „Aufsichtsräte in Montur“ auch den Mund zur Vertretung der Arbeiterrechte und -interessen öffnen dürfen und wollen. Was die neue Verfassung diesbezüglich in ihrer Bestimmung über die gewerkschaftlichen Aktivitäten aussagt, ist leider nicht gerade verheißungsvoll.

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