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Aufstand der Rechtlosen

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Vor 20 Jahren hatte der Westen Nachsicht, bestenfalls Mitleid übrig, wenn von der Armut in Indien die Rede war. Ausgehungerte Kleinkinder auf Betteltour prägten das Bild.

Vor zehn Jahren empörten sich die Gralshüter der Demokratie über das arrogante Gebaren der indischen Premierministerin. Sie hatte es gewagt, die geerbten Traditionen beiseite zu schieben und Westminster durch Autokratie zu ersetzen. Moskau applaudierte, und für Amerika, aber auch Europa war der Subkontinent bloß mehr sozialistischer Satellit, also Randfigur.

Vor zwei Jahren korrigierte sich Frau Gandhi. Nur ihre Afghanistan-Politik machte noch mißtrauisch. Doch jetzt scheint sie von internen Unruhen so sehr bedrängt, daß das Ausland wiederum abwartet.

Indien tut sich schwer mit seinem Image, obwohl es selbst wenig dazu beitrug. Vor kurzem erst sah der Westen den „Gandhi"-Film und erinnerte sich des großen indischen Humanisten. Er kämpfte, gewaltlos und erfolgreich, gegen seine Unterdrücker, doch er fastete auch für einen Frieden, der Indien noch heute versagt bleibt. Das „Gandhi"-Porträt zeigt den äußeren Erfolg und schweigt über das interne Versagen des Mahatma.

Die Engländer verließen 1948 Indien, doch ihre Strukturen blieben erhalten. Zunächst überließen sie die Macht genau denjenigen Schichten, die sie schon während ihrer Herrschaft begünstigt hatten. Alle die Maharajas und Sultane wurden unabhängig, ohne daß sie das geringste an Boden und Vermögen abgeben mußten, das ihnen die britischen Steuergesetze zugedacht hatten.

Und wenn ihnen der indische Sozialstaat auch später ihre Titel raubte, der Landfeudalismus blieb bis heute unangetastet. Mit dieser Wirtschaftshierarchie blieben auf der indischen Landschaft, wo 80 Prozent der Bevölkerung lebt, auch alle sozialen Rangordnungen erhalten.

Die indische Presse, und damit auch das Ausland, spricht schonungslos von dem politischen Blutbad im nordöstlichen Assam und dem nordwestlichen Punjab und dem Versagen der Regierung Gandhi, den hiesigen Minderheiten ihren gerechten Machtanteil zu sichern. Abgesehen davon, daß diese Randgebiete beim schlußendlich hastigen Abzug der Engländer bloß halbüberlegt auseinandergerissen wurden, was in den damaligen und heutigen ethnischen Spannungen resultierte, vergißt man oft, die Unruhen mit dem jugendlichen Alter der indischen Republik in Zusammenhang zu bringen.

Religion und Tradition haben Indien seit jeher hierarchisch gegliedert. Ein Schema dieser Abhängigkeiten war zwar nie möglich, und doch wußten die Briten geschickt, Kasten und Klassen voneinander fernzuhalten, gegeneinander auszuspielen und in Oben, Mitte und Unten einzuteilen. Schließlich gelang es ihnen, ein ursprünglich vermutlich gerechtes Zunftsystem sozioökono-misch so zu verfälschen, daß es nur mehr Gläubiger und Schuldner gab.

Export und Steuerabgaben waren, was die Engländer in Indien interessierte. Dazu benötigten sie in diesem enormen Land ein feines Netz von lokalen Verantwortlichen, denen sie vertrauen konnten. Vertrauen wurde wiederum mit Begünstigungen geschaffen.

Nun dürfen wir nicht vergessen, daß all dieses feudalistische Tun vor 40 Jahren noch absolut intakt war und den Briten tagtäglich ihre Herrschaft über Indien sicherte. Wie sie auf Dorfebene die Gesellschaft teilten und so regierten, so übten sie ihre Macht auch landesweit aus. Sie trennten die Stadt vom Land, die Hindus von den Muslims, die Produktionszentren vom trockenen Hinterland.

Indiens soziale Harmonie war lange vor den Briten von islamischen Eroberern gestört worden. Die Engländer haben diesen Fürstentümern lediglich ein neuzeitlicheres Gewand gegeben, mit einem Wirtschaftsgefälle, das in seiner Raffiniertheit fast komplett erschien.

Mahatma Gandhis Kampfziel waren nebst den Engländern selbst diese tiefgreifenden englischen Institutionen. Er nannte die Harijans, die als religiös Verstoßene beim KastenTHindu bis über die Ohren verschuldet waren und als Sklaven gehalten wurden, „Gotteskinder" und hoffte, das unabhängige Indien würde sie aus ihren Fesseln befreien. Das Gegenteil war der Fall.

Großbritannien übertrug seine Macht den Privilegierten in Stadt und Land, die ob der wirtschaftlichen Aussichten im freien Indien kein Interesse hatten, Risiken einzugehen. Sie zementierten Besitz und Position, wo immer sie konnten.

Irgendwann wurde dann diese Trennung Indiens nach religiösen und ethnischen Prinzipien vordergründig und nach ökonomischen Barrieren hintergründig, schlußendlich doch durchlässig. Die vom Hinduismus verstoßenen Harijans verlangten vom Säkularstaat Sonderrechte und erhielten sie. Die leibeigenen Landarbeiter gehen auf die Straße und vors Gericht und werden gehört. Landlose verlangen ihren verfassungsmäßig garantierten Bodenbesitz. Arbeiter kämpfen um ihre Sozialrechte. Slumbewohner wollen gratis Schulen und Kleidung.

Und nun wehren sie sich, die Privilegierten. Die Großgrundbesitzer senden „Muskelmänner" aus und töten die Rechtlosen, die aufzubegehren wagten. Oder sie bestechen Polizisten und schützen ihre Vorrechte. Wer in Indien heute eine offizielle Funktion innehat, in Verwaltung, Partei und Regierung, benützt sie als Schild gegen diejenigen, die unter ihrer Ämterkorruption litten.

„Indien erwacht!", kann man als Uberschrift über die täglichen Unruhen im Machtbereich Indira Gandhis setzen. Mit der Einschränkung, daß diese sozioöko-nomischen Auseinandersetzungen nur Tropfen auf einen heißen Stein sind, auch wenn es im 700-Millionen-Indien bei einem solchen Machtkampf statt zehn eben tausend Tote geben kann.

Die bekanntesten Zusammenstöße in Assam vor einem Jahr und jetzt im Punjab sind solche Wirtschaftskorrekturen, auch wenn die Sikhs hier sich als religiöse Gruppe zur Wehr setzen. Die Zentralregierung Frau Gandhis manipuliert ihre Macht nicht anders als der kleine Landbaron in der indischen Landschaft, sie hielt ihre Teilstaaten oft an kurzer Finanzleine.

Punjab war eigenständig regiert, bis Frau Gandhi 1980 sezes-sionistische Spaltgeister rief, die sie heute nicht mehr los wird. An der Teile-und-Herrsche-Politik, von den Briten gestartet und vom unabhängigen Indien, der kleinen Machtelite von Nehm bis zur Tochter Indira getreulich kopiert, ist der Subkontinent schließlich so zerbrochen, daß von Delhis propagierter „Integration" ein Fetzen Papier blieb.

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