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Aufzucht zum genormten Bürger

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Schulpflicht - die ,,Heilige Kuh" der Bildungspolitik hatte sie Gerhard Ortner (FURCHE 46/85) genannt. Abschlachten war seine pointierte Forderung. Dazu ein Kommentar.

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Schulpflicht - die ,,Heilige Kuh" der Bildungspolitik hatte sie Gerhard Ortner (FURCHE 46/85) genannt. Abschlachten war seine pointierte Forderung. Dazu ein Kommentar.

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Ein Blick auf die „Befreiung von der Schulpflicht" - auch die gibt es im Schulgesetz — bringt uns dem Kern des Schulzwanges näher. Rund 550 Kinder, zuzüglich einer uns unbekannten Dunkelziffer, sind in Österreich vom Anachronismus der Schulpflicht „befreit". Es handelt sich um Kinder, die meist geistig und/oder mehrfach behindert sind. Kinder, die nach den Vorstellungen der Schulbehörden die vorgesehenen Lehrplanziele nicht erreichen können und deren Bildung und Erziehung nicht lohnt; Kinder also, deren gesellschaftliche Verwertbarkeit die „Investition" einer Schulbildung fragwürdig erscheinen läßt.

Anders läßt sich der Umstand der „Schulpflichtbefreiung"

kaum interpretieren: Denn Einigkeit besteht unter Pädagogen darüber, daß „Bildungsfähigkeit" jedem Menschen zu attestieren sei. Es handelt sich also bei der Befreiung von der Schulpflicht um „Schulunfähigkeit", um die subjektive Unfähigkeit eines einzelnen Menschen, sich in die verordneten Strukturen des Staates einzupassen.

Die Umstände, unter denen der Staat auf sein Recht auf „Beschulung" (das Wort ist der schulbü-rökratischen Umgangssprache entnommen) verzichtet und einzelne seiner Kinder aus ihrer Pflicht entläßt, schärfen den Blick für das Wesentliche des Schulzwanges. Schulpflicht bedeutet in Österreich und praktisch in allen industrialisierten Ländern in erster Linie: Verpflichtung zu einem fast ausschließlich staatlich genormten und verordneten Schulwesen.

Inhalte und soziale Strukturen werden einseitig vom Staat festgelegt; was bleibt, ist eine leer gewordene Versprechung der „JMe-tfrodenfreiheit" des Lehrers. Im übrigen ist es kein Zufall, daß private Schulen (gemeint sind: von den betroffenen Eltern selbstorganisierte Schulen) bei uns kaum organisierbar sind, wenn man von sehr wenigen Beispielen absieht.

Und entzieht man sein Kind solcherart dem staatlichen Zwang, so entkommt man ihm letztlich doch nicht: Grundlage der Anerkennung aller privaten Schulen und allen Privatunterrichts ist letztlich der allgemein gültige, von der Unterrichtsbehörde verordnete Lehrplan.

Die Schule, zu der man heute wie in vergangenen Jahrhunderten verpflichtet wurde und wird, hat es also wahrlich in sich: Nämlich die vom Staat und seinen herrschenden Schichten auferlegten Anforderungen an künftige Untertanen, im heutigen Sprachgebrauch Bürger, zu vermitteln.

Bedenkt man die langatmigen Bildungsreformdiskussionen der späten 60er und der 70er Jahre, in deren Mittelpunkt jeweils die Frage stand, welche Unterrichtsinhalte entbehrlich wären, so ist es atemberaubend, dabei zuzuschauen, in welch blitzartiger Aktion der Computerunterricht nunmehr als mehrstündiges Fach an den Schulen etabliert wird. So, wie die Industrie im 19. Jahrhundert qualifizierte Arbeitskräfte benötigte, was schließlich zur Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht führte, braucht die Wirtschaft unseres ausgehenden Jahrhunderts „Computer litera-tes", Arbeitskräfte, die des Al-

phabets der Maschine mächtig sind, um sie gewinnbringend für andere verwenden zu können.

Das Beispiel zeigt, wie nachhaltig und direkt der Zugriff der Wirtschaft und der realen Machthaber weiterhin auf die in der Schule vermittelten Inhalte ist.

An den sozialen Strukturen dieser ehrwürdigen Institution hat sich über die letzten hundert Jahre praktisch nichts geändert: Unverändert fördert die Form des Unterrichts Unterordnung unter die Autorität von Lehrern, Direktion und Schulbehörde; Wettbewerb und Konkurrenz unter Gleichgestellten (Schüler und Eltern, teilweise auch Lehrer unter-

einander); letztlich Vereinsamung inmitten eines großen Haufen von Menschen.

Interessant ist ein Blick auf die Reformbewegung bei der Unterrichtung behinderter Kinder. Seit Beginn dieses Schuljahres gibt es in Österreich drei Schulversuche an Volksschulen, bei denen nichtbehinderte Kinder gemeinsam mit behinderten, auch geistig behinderten Kindern, von zwei Lehrern unterrichtet werden. Die Versuche, die sämtliche von „unten", d. h. von Eltern und Lehrern initiiert wurden, sind deshalb von großer Tragweite für das ganze Schulsystem, weil sie ganz ent-

scheidend auf die sozialen Strukturen der ganzen Klasse wirken.

In Klassen, bei denen ganz offiziell nicht mehr alle Schüler über den einen Leisten des Volksschul-lehrplans geschoren werden können, wird plötzlich bewußt, daß nicht nur die behinderten Kinder anders sind als die nichtbehinderten, sondern daß alle Kinder Individualität besitzen, auf die die Lehrer eingehen müssen. Zwei Lehrer, die miteinander unterrichten und ihre Arbeit auswerten und planen müssen, öffnen sich damit auch konstruktivem „Feedback" und der Möglichkeit, ihr Verhalten im Unterricht weiterzuentwickeln.

Aber das sind, wie gesagt, „Versuche"; abhängig von der Duldung und Bewilligung durch die Schulbehörde. Die breite Wirklichkeit des Schulzwangs, der Schulpflicht, bedeutet nämlich für die überwiegende Mehrheit der Verpflichteten den Zwang zu einer Schule mit „Selektionscharakter".

Selektion an der Schule bedeutet, letztlich als „Absolvent" von höherbildenden Schulen, Hauptschulen oder Sonderschulen gezeichnet durch das Leben gehen zu müssen: Für die Personalabteilungen unserer staatlichen und privaten Wirtschaft und der Beamtenarmee eine willkommene Vorauswahl und Einstufung. Mit dieser Selektion verbunden ist ein gutes Stück materiellen Glücks und immaterieller Weiterentwicklung.

Eindrucksvoller Beleg für das effiziente Wirken schulischer Selektion ist das Abdrängen von Kindern aus Gastarbeiterfamilien in die allgemeinen Sonderschulen, weit über den statistischen Schnitt österreichischer Kinder hinaus. Dabei sind die Gründe dafür hinlänglich bekannt und von der Schulbehörde keineswegs in Abrede gestellt: Schwierigkeiten beim Spracherwerb der fremden deutschen Sprache und schwierige familiäre Situationen aufgrund der Lebensbedingungen für Gastarbeiterfamilien.

Das Ergebnis ist ein „natürlicher" Auswahlprozeß der zweiten Generation von Gastarbeitern: Sonderschulabgänger, deren Berufsaussichten fast Null sind. Kaum zufällig in einer Gesellschaft, die Gastarbeiter nur mehr mit zunehmendem Widerwillen duldet.

So weit, so schlecht. Die Antwort auf Gerhard Örtners Frage, warum der Zugang zu Bildung und Erziehung über die Schulpflicht reglementiert wird, liegt auf der Hand: Weil es nicht einfach um irgendeine Bildung geht, die gesellschaftlich erwünscht ist, sondern um Bildung und Erziehung, „Formung" (ein pädagogischer Ausdruck!) durch die Schule, so wie sie derzeit ist.

Landauf, landab ist es nach den stürmischen End-60ern und An-fangs-70ern wieder ruhiger um Österreichs Schulen geworden: Der Arbeitsmarkt und seine wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit haben ein neues Kapitel in der Schulentwicklung aufgeschlagen, in dem Anpassung und Uberleben auf Kosten der anderen wieder hohes Ansehen genießen. Kein Wunder, daß die „Begabtenförderung" mit der ihr innewohnenden Versprechung, es eines Tages als Begabter unter weniger Begabten „zu schaffen", sich großer Beliebtheit bei Schwarz, Blau und Rot erfreut.

Abschaffung der Schulpflicht kann daher nur ein probates Mittel zur Erhaltung der gesellschaftlichen Zustände sein. Auf der Strecke blieben dabei diejenigen, bei denen Schulbildung wirtschaftlich gesehen ohnehin eine „schlechte Investition" ist; die Gruppe derer, die jetzt schon großzügig von ihrer „Pflicht befreit" ist, würde dabei zweifelsohne rapide wachsen.

Gefragt ist vielmehr die Abschaffung des Zwangs, der „Pflicht", zu einer Schule der Selektion und der Unterdrückung freier menschlicher Entwicklung und Entfaltung. Freiheit ist aber nur als Recht verständlich: Freiheit zu nichts wäre kaum eine geeignete Form der Befreiung von der Schulpflicht.

In den Vordergrund rücken müßte dabei das Recht auf eine Schule des „Wahren, Schönen, Guten" — aber dafür haben wir ja schon ein Gesetz. Vielleicht brauchen wir zur Quadratur des Kreises nur noch ein Gesetz zur wirklichen Durchsetzung von Gesetzen.

Der Autor ist freiberuflicher Sozialwissenschaftler und Journalist und Mitarbeiter der Lebenshilfe.

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