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Aus dem Land der bedrohten Existenz

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Als Ivo Andric 1961 für „die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale seines Landes gestaltet hat", als erster Jugoslawe den Nobelpreis erhielt, verlieh ihm die Weltpresse Titel wie , jugoslawischer Pasternak", „Diplomat der Literatur", „Doyen der serbokroatischen Literatur", „Joyce von Bosnien" und „Epiker der Begegnung und Konfrontation von Abend- und Morgenland".

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Als Ivo Andric 1961 für „die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale seines Landes gestaltet hat", als erster Jugoslawe den Nobelpreis erhielt, verlieh ihm die Weltpresse Titel wie , jugoslawischer Pasternak", „Diplomat der Literatur", „Doyen der serbokroatischen Literatur", „Joyce von Bosnien" und „Epiker der Begegnung und Konfrontation von Abend- und Morgenland".

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Mit Ivo Andric wurde zum ersten Male ein Südosteuropäer mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Damit trat auch zum ersten Male die Heimat des Dichters, nämlich Bosnien, in das weltliterarische Bewußtsein. Bosnien, ein Land zwischen mehreren Kulturen, dem Islam und dem Christentum, mit römischem, byzantinischem Gepräge, ein Land, dessen politisches Schicksal nicht zuletzt von Österreich bestimmt wurde. „... und das sind die Menschen der Grenze", schrieb Andric 1924 in seiner Dissertation mit dem Titel „Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft", „der geistigen und körperlichen Grenze, jener finsteren, blutigen Linie, die infolge eines schweren, absurden Mißverständnisses zwischen den Menschen gezogen ist, Geschöpfe Gottes, zwischen denen jede Grenze unnütz und widernatürlich ist. Das ist jener Ufersaum zwischen Meer und Festland, der zu ewiger Bewegung und Unruhe verdammt ist. Das ist die Zwischenwelt, in der sich aller Fluch eingenistet hat, der seit der Spaltung der Erde in zwei Welten, in Orient und Okzident, besteht."

Nichts deutete auf seinen späteren Weltruhm, als Ivo Andric am 9. Oktober 1892 in dem Dorf Dolac bei Travnik (in Bosnien, zirka 60 Kilometer von Sarajewo) als Sohn eines katholischen Kupferschmieds geboren wurde. Der Abstammung nach war er Kroate, was ihn aber nicht hinderte, sich nach dem Ersten Weltkrieg dem serbischen Kulturkreis zuzuwenden. Andrics Heimat hatte bis 1878 unter türkischer Herrschaft gestanden und gehörte zur Zeit seiner Geburt zu Österreich-Ungarn. Die schwierigen Verhältnisse schienen sein politisches Interesse zu wecken, denn bereits als Schüler war er Mit-

glied der Sozialrevolutionären nationalistischen Jugendorganisation „Mlada Bosna" (Junges Bosnien), der auch der Mörder Erzherzog Franz Ferdinands von Österreich angehörte, dessen Attentat in Sarajewo 1914 schließlich den Ersten Weltkrieg auslöste. Wegen dieser Mitgliedschaft internierten die Österreicher den jungen Andric während der Kriegszeit. Im Gefängnis verfaßte er seine ersten Gedichte, trieb umfangreiche Kierkegaard-Studien, legte den Grundstock für sein späteres Philosophie-Studium und verließ die Haft mit einem stark

schichtliche Vorgänge beruhte auf solidem Studium. Studiert hat er an den Universitäten Agram, Wjen und Krakau. 1917/18, nach seiner Haft amnestiert, inskribierte er wieder an der Agramer Universität und erhielt anschließend das Absolutorium. 1923/ 24 inskribierte er in Graz, wo er an der dortigen Karl-Franzens-Universität am 13. Juni 1923 zum Dr.phil. promoviert wurde. Danach trat er in den diplomatischen Dienst. Seine Laufbahn führte ihn nach Rom, Bukarest, Triest, Genua, Madrid und Graz. Beim Ausbruch des Zweiten Welt-

verdüsterten Weltbild, das sich noch zwei Jahrzehnte lang in seinem Werk niederschlug.

Kulturgeschichte Bosniens

Das Gesamtwerk von Ivo Andric, im besonderen die „Travniker Chronik", ist so bunt an Gestalten und so reich an zeitgeschichtlichen Schilderungen, daß es eine Kulturgeschichte Bosniens ersetzt. Dieses Detailwissen um historische und geistesge-

krieges befand er sich gerade an der Botschaft in Berlin und - fand sich deshalb nach der Besetzung Jugoslawiens in einem Internierungslager am Bodensee wieder. Nach seiner Rückkehr nach Belgrad verfaßte er zahlreiche Gedichte, Romane und Novellen und - mied die Politik. Ivo Andric war weltgewandt, gebildet und vielbelesen. Seine besondere Verehrung galt Tolstoi, Goethe, Gottfried Keller und vor allem Thomas Mann. Euro-

päer war er dank seiner Bildung, Kroate nach seinem Vater und seiner Mutter, gefühlsmäßig dem Osten und dem Islam verbunden. Nun wandte er sich der Geschichte seiner Heimat zu.

Nur wer die Grundlagen der bosnischen Topographie begreift, kann sein Werk verstehen. Sie zeigt den Schnittpunkt großer Weltkulturen, den Gegensatz zwischen Orient und Okzident, die Trennlinie zwischen Christen und Muslimen, den Konflikt zwischen der osmanischen und der habsburgischen Machtausdehnung. In seinem „Brief aus dem Jahre 1920"schreibt.Andric: „Wer in Sarajewo die Nacht durchwacht, kann die Stimmen der Nacht von Sarajewo hören. Schwer und sicher schlägt die Uhr an der katholischen Kathedrale zwei nach Mitternacht. Es vergeht mehr als eine Minute, und erst dann meldet sich, etwas schwächer, aber mit einem durchdringenden Laut, die Stimme der orthodoxen Kirche. Etwas später schlägt mit einer heiseren und fernen Stimme die Uhr am Turm der Beg-Mo-schee, sie schlägt elf Uhr, elf gespenstische türkische Stunden, die nach einer seltsamen Zeitrechnung ferner, fremder Gegenden dieser Welt festgelegt worden sind.

Die Juden haben keine Uhr, und Gott allein weiß, wie spät es bei ihnen ist, wie spät nach der Zeitrechnung der Sephardim und nach derjenigen der Aschkenasim. So lebt auch noch nachts der Unterschied fort. Dieser Unterschied, der manchmal sichtbar und offen ist, manchmal unsichtbar und heimtückisch, ist immer dem Haß ähnlich, sehr oft aber mit ihm identisch. Diesen spezifisch bosnischen Haß müßte man studieren und bekämpfen..."

Andric hat mehr erreicht, als „nur" den Haß zu bekämpfen. Er hat Brük-ken gebaut. Mit seinen beiden mächtigen Romanen, die während des

Zweiten Weltkrieges entstanden und heute aus der Weltliteratur nicht mehr wegzudenken sind: „Die Brücke über die Drina" und „Die Travniker Chronik", die auf deutsch unter dem Titel „Wesire und Konsuln" erschien.

Viele seiner Werke zählen in Europa bis heute zur Schullektüre. Für die „Brücke über die Drina" erhielt er den Literatur-Nobelpreis.

In seinen hinterlassenen Notizen finden sich keine politischen oder ideologischen Kommentare. Wie weit Andric mit den damaligen Machthabern des Landes ein stillschweigendes Arrangement eingegangen war oder auch nicht, läßt sich heute schwer beurteilen. Immerhin hatte er einige Jahre als Präsident des jugoslawischen Schriftstellerverbandes amtiert, ehe er dem Druck der linientreuen Anhänger eines kommunistischen Kurses in der Kulturpolitik weichen mußte.

Politische Enthaltsamkeit

Obwohl er sich 1958 durch seine in der Parteizeitung „Borba" veröffentlichten „Aufzeichnungen eines Diplomaten" bei Tito und in Parteikreisen nicht beliebter gemacht hatte, wurde er von den „Offiziellen" des Landes für den Nobelpreis vorgeschlagen, nachdem er bereits 1956 den höchsten jugoslawischen Literaturpreis, den „Preis für das Lebenswerk", erhalten hatte.

Die Zuerkennung des Nobelpreises löste im sozialistischen Jugoslawien Freude und nationalen Stolz aus. Der damalige Kulturminister der jugoslawischen Bundesregierung Cerven-kovski hob hervor, daß hier ein Autor ausgezeichnet wurde, der in mehr als 20 Sprachen übersetzt ist, der jenseits von allen politischen Erwägungen steht und unabhängig arbeitet, dessen Werke das allgemein menschliche widerspiegeln und jenseits der Tagespolitik die Stimme seines Volkes hörbar machen konnten.

Als Andric 1975 im Alter von 82 Jahren starb, schrieb die „Welt": „Ivo Andric ist tot. Er hat sein Leben aus einem Lande geschöpft, das seit jeher dem Tode näherstand als dem Leben, das dem Leben immer und ohne Sentimentalität das Sterben beiordnete: Bosnien, das Land der bedrohten Existenz, der fremden Herren, der grausamen Unterdrückung, der blutigen Auflehnung und - des heißen, intensiven Lebens, in dem die Bitterkeit und Trauer den Horizont abgaben für leidenschaftliche Liebe und Bejahung dieser Welt."

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