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Aus dem Moskauer Opernmuseum

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Das Gastspiel der Moskauer ist zu Ende. In der Zeit vom 5. bis 14. Oktober spielten sie in der Wiener Staatsoper je dreimal „Boris Godunow“, „Pique Dame“ und „Krieg und Frieden“ von Prokofjew. Die Aufführungen haben nicht enttäuscht. So ungefähr haben wir uns die Produktionen des berühmten „Bolschoi Tjatr“ vorgestellt. In Regie und Ausstattung herrscht durchaus ein den Sujets entsprechender Historismus. Nie und nirgends wird der Versuch unternommen, zu stilisieren oder zu modernisieren. „Diese russischen Regisseure denken nicht“, sagte während einer Pause ein deutscher Kritikerkollege. Nein, sie denken weniger darüber nach; Wie man es um jeden Preis anders machen könnte. Aber sie empfinden vielleicht richtiger. Stimmen von Weltformat besitzen sie kaum, dafür aber ein überaus diszipliniertes, jedoch keineswegs „gedrillt“ wirkendes Ensemble, herrliche Chöre und ein ganz hervorragendes Orchester. Das letztere war die vielleicht größte Überraschung.

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Das Gastspiel der Moskauer ist zu Ende. In der Zeit vom 5. bis 14. Oktober spielten sie in der Wiener Staatsoper je dreimal „Boris Godunow“, „Pique Dame“ und „Krieg und Frieden“ von Prokofjew. Die Aufführungen haben nicht enttäuscht. So ungefähr haben wir uns die Produktionen des berühmten „Bolschoi Tjatr“ vorgestellt. In Regie und Ausstattung herrscht durchaus ein den Sujets entsprechender Historismus. Nie und nirgends wird der Versuch unternommen, zu stilisieren oder zu modernisieren. „Diese russischen Regisseure denken nicht“, sagte während einer Pause ein deutscher Kritikerkollege. Nein, sie denken weniger darüber nach; Wie man es um jeden Preis anders machen könnte. Aber sie empfinden vielleicht richtiger. Stimmen von Weltformat besitzen sie kaum, dafür aber ein überaus diszipliniertes, jedoch keineswegs „gedrillt“ wirkendes Ensemble, herrliche Chöre und ein ganz hervorragendes Orchester. Das letztere war die vielleicht größte Überraschung.

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Über Mussorgskys musikalisches Volksdrama „Boris Godunow" haben wir an dieser Stelle anläßlich einer Aufführung durch die „Deutsche Oper“ Berlin ausführlich geschrieben. Die Moskauer wählten weder die Urfassung, noch die auf dieser basierende Bearbeitung Schostako- witschs, sondern die glättende, durch Großeinsatz der Streicher vieles retouchierende Bearbeitung Rimsky - Korsakows, die ebenfalls ein nationales Denkmal zu sein scheint. Aber was uns am meisten wunderte war, daß man im „Bolschoi Tjatr“ nicht, wie vom Autor vorgesehen, mit der Volksszene im Wald von Kumy mit der Klage des Schwachsinnigen über das Schicksal des russischen Volkes schließt, sondern mit dem pompösen Tod des Zaren zum Gedröhn der Kreml-Glocken. Natürlich ist das wirksamer — aber wo bleibt die „Moral von der Geschichte“? Auch mit der Streichung eines ganzes Bildes im Polenakt kann man sich kaum einverstanden erklären.

Daß die in Wien gezeigte Inszenierung dem Vernehmen nach mehr als 20 Jahre alt ist, würde weniger stören, als daß die gemalten Kulissen entsprechend abgenutzt aussehen — und offensichtlich an den Seiten beschnitten werden mußten. An das viele Gemalte mußte man sich erst gewöhnen, aber dann entdeckte man seine besondere Schönheit. Zum Beispiel in einem Bild mit vielen, vielen rotangestrahlten Riesentürmen mit Zwiebelkuppeln. Auch der in blauen Mondschein getauchte Park mit einem springenden Hirsch im Vordergrund und einer echten rauschenden Fontäne im Hintergrund war sehenswert. Vor allem aber beeindruckten das geradezu pedan tisch vorgeführte kirchliche und höfische Zeremoniell sowie die an diesem beteiligten Chöre, natürlich auch die des Volkes. Diese intonieren hell und rein und phrasieren mit

vorbildlichen Akuratesse. Hier scheint die Folklore und die altrussische Kirchenmusik noch nachzuwirken. Daß im vorletzten Bild der Zarewitsch auf einem echten Pferd daherkommt, paßt zum Gesamtstil. (Die Inszenierung stammt von Leonid Baratow, das Bühnenbild, die vielen prächtigen Kostüme und das ebenso prunkvolle Mobiliar im Kreml von Fjodor Fjodorowski.)

Das Handikap der Boris-Premiere war, daß Alexander Ognjivzew nur ungefähr optisch unserer Idealvorstellung des Usurpators entspricht, aber weder durch seine Stimme noch durch sein Spiel zu faszinieren vermag. Sein Todessturz freilich war von erschreckender Realistik. Gut profiliert: Andrej Sokolow als Schujski, Viktor Netschipajlo als Pimen, Artur Eisen und Vitali Wlassow als Bettelmönche. Sehr eindringlich Alexej Maslennikow als Schwachsinniger; zwei schöne Frauenstimmen: Irina Archipowa — Marina Mnischek und Nina Gregor- jewa — Schenkenwirtin. — Sehr zurecht wurde für das Orchester zweimal das volle Licht eingeschaltet, um es gebührend feiern zu können: Unter der Leitung des knapp 30jäh- rigen Juri Simonow, der ein ganz ausgezeichneter Musiker ist, spielte es überaus präzise, temperamentvoll und klangschön.

„Pique Dame" gehört, wie „Boris Godunow“ und wie „Krieg und Frieden“ in die Gattung der Literatur- Oper, die einen sehr großen, ja überwiegenden Teil des russischen Opemschaffens bildet. Tschaikowsky schrieb die Musik auf ein Libretto seines Bruders Modest, der eine bekannte Novelle Puschkins zunächst für einen anderen Komponisten dramatisiert hatte. Die musikalische Skizze entwarf Tschaikowsky innerhalb von 40 Tagen zu Beginn des Jahres 1890 in Florenz,

unmittelbar darnach folgten Klavierauszug und Partitur, und noch im gleichen Jahr fand am Marijinski- theater in Petersburg die um jubelte Uraufführung statt. Die Komposition erfolgte also zwischen Tschaikowskys 5. und 6. Symphonie und drei Jahre vor seinem Tod. „Pique Dame“ ist die vorletzte von zehn Opern Tschaikowskys, von denen bei uns jedoch nur zwei bekannt sind, und auch „Pique Dame“ wurde schon viele Jahre nicht mehr in Wien gespielt, im Großen Haus zuletzt 1935, im Theater an der Wien 1954. Sehr zu unrecht. Denn diese Partitur zeigt Tschaikowskys Meisterschaft in-jedem der sieben Bilder: die Sinnlichkeit der weitgeschwungenen Melodie, den romantischen Orchesterklang, die ideal den Möglichkeiten der menschlichen Stimme angepaßte Gesangslinie, die Prägnanz in der Charakterisierung von Personen und Situationen. Kein Wunder, daß „Pique Dame“ zu den nationalen Monumenten der russischen Oper gehört. Und als solches wurde sie uns auch von dem Ensemble des „Bolschoi Tjatr’ ungekürzt vorgeführt.

Da sind zunächst einmal die Kulissen: ein Park mit Pavillon und fünf großen Statuen, die freilich nicht gar so häßlich hätten sein müssen. Da gibt es Lisas Zimmer mit dem wie auf einem Gruppenbild um ein Hammerklavier versammelten Freundinnen. Da ist das prunkvolle Interieur eines reichen Petersburger Hauses, wo ein Ball stattfindet; als Rahmen für eine Massengruppierung von etwa 50 Offizieren, das pompös ausgestattete Casino. Und als vorletztes, schönstes Bild das nächtliche Newaufer mit der riesigen, sich wie in die Unendlichkeit, in den Tod ausdehnenden Perspektive, gesäumt von kleinen roten Laternen.

‘Das alles mag man als sehr konventionell abtun, es ist aber in seiner Einheitlichkeit des Stils, der immer wieder an Ingres erinnert, überzeugender und jener Zeit und dem Sujet mehr angemessen als so mancher intellektuelle Modernismus. Der Ausstattung und den Kostümen Wladimir Dimitrijews entspricht die Regie Boris Pokrowskijs. Er läßt die einzelnen Gestalten ihre Konflikte und Situationen mehr von innen erleben als nach außen durch Gesten projizieren (wodurch sich dieser Stil entschieden von dem der italienischen Oper unterscheidet). Bei kleinen Ensembles stehen die Sänger meist ruhig da, was sowohl dem Schönklang des Gesangs wie auch der Konzentration des Zuhörers zugute kommt. Treten Gruppen auf, so stellt Pokrowski immer zunächst ein „lebendes Bild“ und entwickelt von ihm aus die Aktionen. Wir wissen nicht, wie alt diese Inszenierung ist; höchstwahrscheinlich geht sie auf noch viele ältere, vielleicht aus der Zeit der Jahrhundertwende zurück. Aber soll man das bedauern? Ist nicht jene vergangene Welt, sind nicht die handelnden Personen, die Puschkin und Tschaikowsky darstellen, die gleichen geblieben?

Den Spieler Hermann, der den Tod der alten Gräfin verursacht, der am Schluß das gewonnene Geld und die Geliebte verliert, gab darstellerisch und stimmlich gleichermaßen faszinierend und souverän der junge Wladimir Atlantow. Lisa war Tamara Malischkina, eine der Starsängerinnen der Moskauer Oper, die ein wenig an die junge Jurinac erinnert. Sehr imposant war auch der Bariton von Juri Masurok, der den Gegenspieler und Rivalen Hermanns, den Fürsten Jeletzki markant profilierte. Durch eine ungewöhnlich schöne Altstimme und nobles Spiel zeichnete sich Jelena Obrazcowa als Lisas Freundin aus. Überhaupt bestätigten Spiel und Haltung der Sänger dek Bolschoi Tjatr in diesem Werk, was ein aus östlichen Ländern heimkehrender Journalist einmal sagte: Wer auf der Bühne eine intakte aristokratische Geselllschaft mit entsprechenden Manieren sehen wolle, der müsse nach Belgrad, War

schau oder Moskau fahren und dort eine Klassikeraufführung besuchen.

Vorzüglich, wie am ersten Abend, war das Orchester, diesmal unter der Leitung des etwa 60jährigen Boris Chajkin. Sein Schönklang, seine Flexibilität und Präzision, seine mustergültige Begleitung sind kaum zu überbieten. Gewiß, Tschaikowsky wußte nicht nur für Singstimmen zu schreiben, sondern er verstand auch, sie zu schonen, so daß sie nie vom Orchester zugedeckt werden. Aber die Artikulation, die Wir schon bei einigen Sängern in „Boris Godunow“ bewundert haben, ist so deutlich, so perfekt, daß, wer die russische Sprache kennt, nicht nur jeden Satz, sondern auf weite Strecken fast jedes Wort verstehen konnte. Darauf scheint man im Bolschoi Tjatr — oder vielleicht überhaupt an russischen Bühnen, wir wissen es nicht — besonderen Wert zu legen.

„Krieg und Frieden" von Sergej Prokofjew — das ist ein merkwürdiger Fall. 1941/42 wurde die Riesenpartitur geschrieben, zunächst für zwei abendfüllende Opern, die 1946 und 1947 auch aufgeführt wurden. Dann ihachte Prokofjew eine Kurzfassung, die ohne Pausen immerhin noch fast vier Stunden dauert. Jetzt sind es 13 Szenen in drei Akten, die aus dem umfangreichen Roman Leo Tolstois exzerpiert wurden.

Es war die aufschlußreichste und glänzendste Aufführung der Moskauer, mit einem kaum vorstellbaren Aufwand an szenischem Prunk und national-kriegerischem Arrangement. Da gab es gleich zu Beginn einen Schlagwerk- und blechbläsergepanzerten Volkschor vor mächtigen Säulen. (Wir dachten, es seien die des Bolschoi Tjatr, aber es waren statt acht nur sieben.) Dann folgte Szene auf Szene, abwechslungsreich und imposant, einige Kriegsbilder wie von Delacroix oder Piloty gemalt, zumal der Kommandohügel mit den großen Kanonen.

Im 1. Teil dominieren, wie in Tolstois Roman, die privaten Gefühle und menschlichen Beziehungen. Auch hier gab es einen Höhepunkt in Regie und Ausstattung: den Silvesterball 1910 beim Großfürsten von Jekaterinsk. 16 große und ein Riesen-Lüster erhellten einen überdimensionalen Saal mit farbenprächtigen Offlziersuniformen und schöngewandeten Damen.

Die weitaus beste Stimme, ausdrucksvoll und mit persönlichem Timbre, hat Galina Wischnjewskaja. Überaus dekorativ war auch Jelena Obrazcowa als Gräfin Hélěne Be- suchowa. Von den 60 Darstellern, die das Programm nennt, darunter etwa 30 Protagonisten, seien wenigstens noch Wladimir Petrow, Alexej Maslennikow und Alexander Ogn- jivzew genannt. Als Meister historischer Inszenierungskunst erwies sich Boris Pokrowski, die glänzende Ausstattung stammt von Vadim Ryndin. Und die Musik von Sergej Prokofjew? Über sie ist eigentlich nur zu sagen, daß sie den Anforderungen eines historischen Kolossalgemäldes entspricht. Mstislaw Rostropowitsch, der mit allen Mitwirkenden, besonders aber mit dem Orchester lebhaft gefeiert wurde, hatte das Riesenensemble vier Stunden lang sicher im Griff — eine ungewöhnliche Leistung. Entsprechender Beifall.

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