6937465-1983_14_26.jpg
Digital In Arbeit

Aus der Zesteuung hotten

Werbung
Werbung
Werbung

Die Technologie, mit deren Hilfe wir uns das Leben erleichtern, hat sich in überreichem Ausmaß entwickelt, die Arbeitszeit ist nicht nur kürzer, sondern auch leichter geworden. Im Grunde haben wir mehr Möglichkeiten als jemals zuvor: uns weiterzuentfalten, uns weiterzubilden, unsere Kinder zu erziehen, Bücher zu lesen, zu reisen, Hobbys nachzugehen, zu malen, zu dichten, zu komponieren, zu träumen, zu phantasieren, lieb zueinander zu sein.

Nützen wir diese Gelegenheiten? Oder sind wir nur noch zerstreut? Mehr abgelenkt als vordem, weniger gefordert, weniger auf das Wichtige konzentriert, weniger uns selbst und anderen gegenüber verantwortlich? Wir geben den Kindern Geld, damit sie sich zerstreuen und wir sie los sind. Wir betreiben uns selbst, sind ständig „in action“, verfolgen vorprogrammierte Aktivitäten, vorprogrammierte Gefühle, weil wir Angst haben, uns fallen zu lassen, selbständig zu sein, ansonsten nicht akzeptiert zu werden; Konsum als Zerstreutheit, Zerstreutheit als Bewältigungsstrategie, weil sonst nichts mehr in den Griff zu bekommen ist: Kein eigenes Anliegen, keine direkte Linie.

Ist der Mensch, ist das Menschliche heute tatsächlich mehr zerstreut als früher? Sind wir zu wenig geübt in der Beachtung wichtiger Reizkonstellationen unserer Umwelt, die uns fördern können, w’elche die Inbetriebnahme von einigen Millionen bisher ungenützter Ganglienzellen unseres Gehirns (welcher Pool von möglichen Gedanken, Gefühlen, Erwartungen, Hoffnungen!?) beschleunigen, unser Herz für verschiedene Motivationen aufsprengen? Sind wir immun gegenüber Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit, Selbstzucht, nur mehr empfindlich gegenüber TV, Gehaltserhöhung und Sex?

Ist es vielmehr nicht immer so gewesen, nur aus der Zerstreutheit wird Sammlung überhaupt möglich? Erst aus der Gegensätzlichkeit werden bestimmte Phänomene ganz verständlich: Nähe und Distanz, Liebe und Haß. Jeder hat erlebt, daß ein einziger tragender Gedanke in ihm Form und Gestalt annimmt; Sammlung und Zerstreutheit aufeinander folgen, Aufbrüche, Abwendung, neuerliches Herantreten, Vereinigung aller Mühen auf einen Punkt notwendig werden, Zerplatzen der Denksysteme, Abkehr und neuerliches Finden desselben Gedachten? Wie eine Bruckner-Symphonie - eine Dynamik der Widersprüche und Alternativen bis zum „Heureka“. Halten wir diesen Vorgang heute nicht mehr aus? Kann der Mensch heute noch jene Ebene behaupten, in der sich Gegensatzpaare und Widersprüche aufheben: Nähe und Distanz, Es und Uber-Ich, Gott und Kaiser, Sammlung und Zerstreutheit?

Können wir uns überhaupt noch zerstreuen? Entspannen, der Muße frönen, Gemütlichkeit finden, Abschalten - ohne an anderen schuldig zu werden, ohne die Sinnfrage unseres Daseins brennend auf der Haut zu spüren?

Wie zerstreuen sich die Heiligen? Der Heilige Vater, die Mächtigen? Entkommen sie der Angst, Zeit zu verlieren und zu versagen? Ist Zerstreuung noch möglich, ohne die Solidarität mit den sich mühenden, kämpfenden, hungernden, sterbenden Menschen neben mir in Frage zu stellen? Wer kann noch unbefangen, im munteren Gottvertrauen, eine Melodie vor sich hinsummend durch diese Welt gehen? Sogar bei Vergnügungstouren werden die Slums hergezeigt als Attraktion, als Blumen des Bösen, als geschickter Vorwurf. Gibt es nicht noch zu wenig Zerstreuungsmöglichkeiten? Einige tun es, müssen es in psychiatrischen Kliniken tun: Zerstreuung - das Motiv der persönlichen Flucht.

Wir haben die Unbefangenheit verloren, sind Erkennende geworden. Wir fürchten, daß jeder Gedanke, jede Tat falsch sein könnten, wenn sie uns gegenüber dem Mitmenschen, Mitbruder - Gottsucher, Nahrungssucher wie wir selbst, in ein Dilemma bringen, in die Hölle, die die andern sind. Ist uns noch zu helfen? Sind wir noch zu retten? Welches Ausmaß an Vertrauen - an Urvertrauen als Basis der Hoffnung könnte uns das Ganze wiederbringen, die Sammlung, die uns über je- - den Widerspruch hinwegtragen könnte und uns wahrhaftig machen: Liebe und Tod, Leben und Verdammnis, Bindung und Freiheit, Angst und Hoffnung?

Univ.-Prof. Dr. Hans Georg Zapotoczky ist Professor für Psychiatrie

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung