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„Aus Holz Eisenreifen…”

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Der chronologische Ablauf des neuesten sowjetischen Kulturskandals: Der ungarische Schriftsteller György Konräd wurde im Oktober 1974 in seiner Budapester Wohnung verhaftet. Auch der Soziologe LGHV Szelenyi und der junge Poet Tarnas Szentjoby wänderten ln oitcÜnte’rsuchungszelle. Es folgte eine Hausdurchsuchung in der Wohnung Szelenyis, wo ein angeblich aufwieglerisches Manuskript beschlagnahmt wurde, das übrigens bereits im Lande zirkulierte. Alle drei Häftlinge wurden bezichtigt, „Taten geplant und teilweise durchgeführt zu haben, die das ungarische Strafgesetz verletzen”.

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Der chronologische Ablauf des neuesten sowjetischen Kulturskandals: Der ungarische Schriftsteller György Konräd wurde im Oktober 1974 in seiner Budapester Wohnung verhaftet. Auch der Soziologe LGHV Szelenyi und der junge Poet Tarnas Szentjoby wänderten ln oitcÜnte’rsuchungszelle. Es folgte eine Hausdurchsuchung in der Wohnung Szelenyis, wo ein angeblich aufwieglerisches Manuskript beschlagnahmt wurde, das übrigens bereits im Lande zirkulierte. Alle drei Häftlinge wurden bezichtigt, „Taten geplant und teilweise durchgeführt zu haben, die das ungarische Strafgesetz verletzen”.

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Am 28. Oktober 1974 wurden dann die drei Literaten freigelassen, nachdem man ihnen nach neuester Moskauer Mode eröffnet hatte, daß sie zwischen einem Strafprozeß und dem Verlassen des Landes zu wählen hätten. Sie wählten alle die Freiheit und ersuchten um die Ausstellung der Ausreisevisa für sich und ihre Familien nach Paris, in der stillen Hoffnung, daß diese Prozedur einige Monate in Anspruch nehmen werde.

Alle drei Männer gehören der „Neuen Linken“ an und kommen aus der „Budapester Schule der Soziologen“, deren treibender Geist der spät-marxistische Philosoph György Lukäcs war. Die Genannten waren nicht die ersten, auf die die Geheime Kulturpolizei aufmerksam geworden war. Im Juli 1974 war bereits der Kritiker Ferenc Feher wegen des Schmuggeins eines Manuskripts ins Ausland verhaftet worden. Im Jänner 1974 hatte der in die Länge gezogene Strafprozeß des radikal-linken Dichters Miklös Haraszti Aufsehen erregt. Die total phantasielose Behörde hatte dabei den Dichter ebenfalls der „Aufwiegelung gegen staatliche Institutionen“ bezichtigt. Der Parteisoziologe und ehemalige Ministerpräsident Andras Hegedüs, Räkosis unmittelbarer Nachfolger, war bereits im Mai 1973 sub titulo „Opposition gegen den Marxismus-Leninismus und die Parteipolitik“ aus der Partei ausgeschlossen worden.

Die Freunde Heraszti und Szent-jöby sind Mao-, Ho-Chi-Minh- und Che Guevara-Verehrer; die Gruppe um Hegedüs, Maria Markus, Mihäly Vajda, Jänos Kis und Agnes Heller hingegen hätten nach Ansicht der Partei „traditionelle rechts-revisio-nistische Ansichten mit Ideen der sogenannten „Neuen Linken“ vermischt und versuchte — wie ein ungarisches BajjlflitfiworL sagt —, „aus Holji Blrienenrlifen zu

schmieden“. Und auch ein solches ideologisches Phänomen wird nicht geduldet. Selbst György Lukäcs ist derzeit wieder suspekt, aber sein enger Mitarbeiter und treuer Schüler Ferenc Feher gilt als „leninistischer Ideologe“.

Warum die Behörden diese bunte Gesellschaft unterschiedslos in denselben Topf wirft? Schwer zu sagen! Plausibel ist, daß die „Abweichler“ Teile der „Basispolitik“ und der Regierungstätigkeit kritisiert und daß sie die sozialistische Gesellschaft anders definiert haben, als derzeit erwünscht isti Sie wagten mitunter, zu behaupten, das heutige Ungarn sei gar kein so idealer Proletarierstaat, wie dies von der monotonen Parteipropaganda verkündet wird. Sie behaupteten sogar, daß verschiedene Aspekte des ungarischen Lebens mit jenen der „kapitalistischen Gesellschaft“ gar nicht zu vergleichen seien; sie bekundeten Zweifel an der Unfehlbarkeit der Partei und an der ewigen Gültigkeit der „ideologischen Heiligen Schriften“.

Nach dem Tode des Chef ideologen Istvän Szirmai im November 1969 avancierte György Aczel zum Kulturpapst der Partei. Aczel ermutigte die unabhängige soziologische Forschung. Nonkonformistische Studien und Analysen wurden veröffentlicht, Alternativen präsentiert, neue Lösungen vorgeschlagen. Jeder damals nannte sich zwar „Marxist“, war aber bemüht, eine eigene Gruppe zu organisieren. Die höchste Parteiführung fühlte sich wie von Spukgestalten verfolgt, die ringsum wuchernden Häresien begannen die Partei zu stören und zu beunruhigen. Die Sowjetführer ihrerseits befürchteten, die „ungarischen Verzerrungen“ könnten durch die Stacheldrahtzäune sick?rn. Die Folge war, daß die erwähnten Personen zu „potentiell subversiven Elementen“ erklärt wurden. Das Ideal für die Staaten des Warschauer Pakts hat

— vom Moskauer Gesichtspunkt aus

— die ideologische und kulturelle Konformität zu sein. Allerdings machte die Ost-West-Detente westliche Gedanken und Werte für denkende junge Forscher und Literaten immer attraktiver. Um den ostwestlichen Annäherungsprozeß zu bremsen, entschloß man sich wieder zur Strenge. Freidenker müssen entmutigt werden und die Lust verlieren, ihre „extremen Gesichtspunkte“ zu verbreiten. Das Kulturpolitische Arbeitskollektiv des Zentralkomitees der Partei schwingt nun wieder die Peitsche wie in der Vor-reformära. Akademiker und Kulturexponenten erhalten seltener Visa nach dem Westen; manche verloren ihren akademischen Arbeitsplatz; Polizeiuntersuchungen sind wieder an der Tagesordnung. Aczel fügte sich im Jänner 1973 und nannte Hegedüs und Vajda „Achselträger und Renegaten“. Das war aber „zu spät und zu wenig“. Im März 1974 wurde er als ZK-Sekretär abgelöst, blieb jedoch als Stellvertretender Ministerpräsident weiterhin Politbüromitglied.

Danach begann die neuerliche Stagnation des ungarischen Kulturlebens. Mittelmä;ügkeit mit Linientreue wurden wieder Trumpf und für Nonkonformisten ist der Hürdenlauf von Tag zu Tag schwieriger. Inzwischen freilich tauchte auch in Ungarn eine Samisdat-Literatur auf und ihre Zirkulation beunruhigte die Ideologiereiniger und kulturellen Wanzentilger, um so mehr, als sie erfuhren, daß interessante Manuskripte in westliche Länder geschmuggelt worden seien. Da man keine Kulturmärtyrer brauchen kann, wird deshalb den kommunistischen Dissidenten nahegelegt, den „Weg der Freiheit“ zu wählen und zu ihren „westlichen Freunden zu übersiedeln“. So schafft man zahlreiche Mini-Solschenizyns. Hauptsache, daß sie im Westen den Kontakt mit der osteuropäischen Öffentlichkeit verlieren. Man nennt das in sowjeteuropäischen Führungskreisen die ,neue Taktik“, der unter anderem im Oktober 1974 der Chefredakteur der literarischen Wochenzeitschrift „filet es Irodälom“, György Nemes, zum Opfer gefallen ist. Seinen Platz übernahm der unbedeutende Literaturapparatschik Miklös Jovanovics, ein Mann mit einwandfreier Klassenabstammung.

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