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Die Überflußgesellschaft hat den Mangel abgeschafft. Denn es darf ihr an nichts fehlen.

Die Folgen für die Umwelt sind bekannt. Nicht nur in Form irreparabler oder reparabler Schäden. Auch in Form der Geringschätzung von Dingen und Werten, die zwar vorhanden sind und die zum Leben nützlich und notwendig wären, auf die aber zugunsten der grellen Masse verzichtet wird. Stimme und Anwalt des Geringgeschätzten regen sich erst allmählich.

In der Literatur gehört die Lyrik zu den bedrohten Arten. Die wenigen Reservate, in denen sie noch lebt und brütet, schrumpfen zu austrocknenden Biotopen. Ein Verband der Lyrikschützer ist nicht in Sicht. Also regt sich die Lyrik an einem Tag im März noch einmal wie der letzte Uhu.

Der Vorweis einer beeindruckenden Ahnenreihe ist zwecklos. David und Dante, Homer und Vergil, Hölderlin und Goethe, Trakl und Benn - was soll's, das haben wir in der Schule gehabt. Auch die Saurier sind ausgestorben.

Vielleicht also die Umwegrentabilität für die Konsumgesellschaft und die Politkultur? Was wäre die Werbung ohne Stab- und Endreim, was wäre eine politische Demonstration ohne gereimten Slogan? Einige domestizierte und degenerierte Arten leben im Käfig. Zum Geburtstag, zum Jubiläum werden sie herausgelassen. Junge Liebe, die sich einst ihre Stimme lieh, ist längst in der Diskothek sprachlos geworden.

Womit beweisen, daß Lyrik nicht sterben kann und soll? Nicht mit der Literatur und den Spruchklopfern, sondern mit Atem und Kreislauf. Lyrik - daher ja auch ihre Ableitung und Nähe zur Musik - ist jene Sprachform, die ihren Rhythmus vom Leben selbst hat. Lyrik ist sprechender Atem.

Die Meister haben dem Atem künstlerische Formen gegeben, Vers- und Zeilenmaß, Ästhetik bis zur Erstarrung. Der Aufstand gegen die klassischen Formen war Befreiung zu neuer Unmittelbarkeit.

Welche Freiheit wird nicht mißbraucht? Ein paar Zeilen abgebrochen untereinandergestellt, ein paar Assoziationen - und fertig ist die neue Lyrik. Das macht sich jeder, der ein Beispiel kennt, selbst. Wozu ein Lyrikband, wozu ein Lyriker?

Produktion und Rezeption gerieten ins krasse Mißverhältnis. Die Maßstäbe der Germanistik wurden unüberprüfbar. Medien und Verlage hielten sich an Prominenz. Und wen betraf die Thematik eigentlich noch? Wer empfindet Sprache bloß als „Material”, in linguistischen Werkstätten abgeklopft und montiert, konkretisiert, visualisiert? Dem Verdienst, Wittgensteins Schweigeforderung eine Metasprache der Skepsis abgewonnen zu haben, steht der Verlust von Ernst und Melos gegenüber. Das machbare und nützliche Experiment wird zum Kabarett. Bastelkurse gibt es in jeder Volkshochschule. Wozu Lyrik?

Wen, wenn nicht den lyrischen Dichter, den sensibelsten in der Gesellschaft der Dickhäuter, träfe nicht der Keulenschlag der politischen Mißstände? Wer wollte die Gesellschaft nicht verändern, im eigenen Auftrag, im Auftrag seiner Ideologie und Partei? Die Schlagzeilen-Lyrik, die Didaktik der Volkserziehung hat Tradition und Saison. Bloß: Politik treiben allemal Politiker besser. Und Medien vermitteln sie wortinflationär. Wozu Lyrik?

Wirtschaftlich gesprochen: die Lyrik hat ihre eigene Marktnische künstlich verengt und verbaut. Sie hat dem Publikum der Gegenwart die Lyrik abgewöhnt. Ein ehedem blühender Zweig der Literatur wurde zum bleichen Wassertrieb verstiegener Eliten.

Wo ist der Gerechte, dessenthal-ben die lyrische Kultur nicht untergehen soll? In den letzten Ref ugien der sensitiven Gedichte, die spontan und dem Atem angemessen sind, die der Trivialität und Redundanz des Alltäglichen die Revolte des anderen Zustands entgegensetzen. Mut zum Gefühl ist keine Gefühlsduselei. Alles ist möglich in der Lyrik, wenn der Inhalt den Menschen berührt und betrifft und wenn die Form sich atmen läßt.

Zurück zum Leser! Zurück zum Hörer! Zurück zum Sprecher! Wieviele professionelle Sprecher, wieviele Schauspieler beherrschen heute noch Gegenwartslyrik?

Wer kennt sie überhaupt noch, die lyrischen Dichter dieses Landes, die Brotlosesten der österreichischen Kulturpolitik, die Stiefkinder der Medien und Verlage?

Heraus aus dem Ghetto der Lite-raturzeitschriften und alibisubventionierten Almanache! Ohne Lyrik verkommt die Sprachkultur eines Volkes zum Kommunikations-Kauderwelsch der Computer-Neandertaler! Lyrik ist der Saft der Sprache, ihr Lebensgeist und ihr Feuer.

Rettet die Lyrik! Sie stiftet das Bleibende. Ausgelyrt ist ausgeleert. Schon starrt uns die Leere aus hohlen Augen an.

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