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Außerhalb der Marktwirtschaft — kein Spielraum

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In seinem 1967 erschienenen Buch über „Die moderne Industriegesellschaft“ schrieb der linksliberale Vulgärökonom John K. Galbraith, daß „das Industriesystem für die Gewerkschaften eindeutig von Nachteil zu sein scheint“. Die Fabriksherren der Jahrhundertwende, die gegen jede soziale Forderung zähen Widerstand leisteten, gibt es heute nicht mehr. Alle Macht ist auf die lohnabhängige Technostruktur übergegangen, womit der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer weitgehend abgebaut wurde. Daraus schließt Galbraith: „Gerade die Dinge, für die sich die Gewerkschaften am nachdrücklichsten eingesetzt haben — die Regulierung der Gesamtnachfrage zur Sicherstellung der Vollbeschäftigung und höherer Einkommen für ihre Mitglieder —, tragen heute nur zu ihrem Verfall bei.

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In seinem 1967 erschienenen Buch über „Die moderne Industriegesellschaft“ schrieb der linksliberale Vulgärökonom John K. Galbraith, daß „das Industriesystem für die Gewerkschaften eindeutig von Nachteil zu sein scheint“. Die Fabriksherren der Jahrhundertwende, die gegen jede soziale Forderung zähen Widerstand leisteten, gibt es heute nicht mehr. Alle Macht ist auf die lohnabhängige Technostruktur übergegangen, womit der Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer weitgehend abgebaut wurde. Daraus schließt Galbraith: „Gerade die Dinge, für die sich die Gewerkschaften am nachdrücklichsten eingesetzt haben — die Regulierung der Gesamtnachfrage zur Sicherstellung der Vollbeschäftigung und höherer Einkommen für ihre Mitglieder —, tragen heute nur zu ihrem Verfall bei.

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Tatsächlich sind die Gewerkschaften zugleich Ursache und Opfer jener rasanten Veränderungen in den letzten achtzig Jahren, die auch andere Institutionen (Familie, Schule, Staat, Kirche) bis in ihre Fundamente erschütterten. Ihre ursprünglichen Aufgaben sind größtenteils erfüllt. Wollen sie nicht die Qualität einer autonomen Einrichtung verlieren, so dürfen sie das Tempo der Veränderungen nicht so steigern, daß das System ein anderes wird. „Denn nur in einer Ordnung“, schreibt Hermann Josef Wallraff, „die es weithin auf privatautonome Strukturen abstellt, haben autonome Gewerkschaften Raum. Ändert sich das rahmenhafte Gefüge dahin, daß es an Stelle der Gewerkschaften nur mehr Institutionen zuläßt, die nicht privater Art sind, dann handelt es sich nicht um Gewerkschaften, mag auch der Ausdruck beibehalten sein.“

Die akute Krise der meisten europäischen Industriestaaten ist zugleich Ausdruck der Identitätskrise ihrer Gewerkschaften. Sie spielen eine überkommene Rolle weiter, obwohl diese längst nicht mehr den Realitäten entspricht. Sie treten auf als Vertreter einer ausgebeuteten und unterprivilegierten sozialen Gruppe und klagen in ritueller Form vor jedem Lohnstreit über die Ungerechtigkeit der Einkommensverteilung, über horrende Gewinne der Industrie und die unsoziale Haltung der Unternehmer, wobei es gar keine Rolle spielt, ob es dabei um private Unternehmer, sozialisierte Betriebe oder den Staat selbst — der oft von sozialistischen Regierungen geführt wird — geht. Kein Gewerkschaftsfunktionär käme je auf die Idee, öffentlich jemand anderen für Inflation, Arbeitslosigkeit oder Währungskrisen verantwortlich zu machen als „die Unternehmer“ oder das „kapitalistische System“.

Die Wirklichkeit aber sieht anders aus. Jede WirtschaftspoHtik ohne oder gar gegen die Gewerkschaften ist heute in allen westlichen Industriestaaten zum Scheitern verurteilt. Über die Mitverantwortung der Gewerkschaften für wirtschaftliche Mißerfolge kann es daher überhaupt keinen Zweifel geben.

Obwohl in den meisten marktwirtschaftlich organisierten Staaten Europas die Gewerkschaften das Zentrum der Macht bilden, weigern sie sich, ihre Marktmacht einzugestehen, um sie dann freilich immer wieder im politischen Alltag auszuspielen: bei Lohnverhandlungen, beim Kampf um eine überparitätische Mitbestimmung, um zentral verwaltete Vermögensbildungsfonds, um gewerkschaftsabhängige Massenmedien.

Es ist nicht so, wie Galbraith meinte, daß nämlich die Gewerkschaften ihre Funktion in der modernen Industriegesellschaft überdauern wie etwa „die Fischhändler und Seildreher in der City von London“. Was freilich in einer Zeit, in der Gerichte und Gesetze tatsächlich Oft Instrumente der herrschenden Klasse waren, heldenhaft, ruhmreich und oft gerechtfertigt war, kann heute einfach nicht mehr als Waffe des Schwächeren hingenommen werden. Denn aus David ist längst Goliath, die vierte und oft stärkste Gewalt im Staat geworden.

Die Macht der Gewerkschaften und damit der Polster des modernen Wohlfahrtsstaates, der alle traditionellen Sanktionen der Marktwirtschaft abfedert, die Ausweitung des von den Gewerkschaften beherrschten „öffentlichen Korridors“, in dem die strengen Spielregeln der Effizienz und des Wettbewerbs kaum mehr gelten, machen hinter den akuten politischen Problemen in Europa eine generelle Krise unserer Industriegesellschaft sichtbar, e Im Mutterland der modernen Demokratie, in Großbritannien, stellen kleine und große Gewerkschaften die Autorität der gewählten Volksvertreter immer wieder in Frage und erzwingen mit den Mitteln des Arbeitskampfes die Änderung von Regierungs- und Parlamentsbeschlüssen. Dies geschah im Zusammenhang mit dem Gewerkschaftsgesetz der Regierung Heath. Damit war der Bergarbeiterstreik vom Winter 1973 politisch motiviert, indem verschiedene Führer der Berg-arbeitergewerkschaft offen erklärten, es gehe ihnen nicht nur um Lohnfragen, sondern auch darum, die Regierung Heath zu stürzen. Dies war auch der Fall, als Mitte Juni mobilisierte nordirische Loyalisten ihre gewerkschaftliche Macht einsetzten, um die Provinzregierung zu stürzen und die Beseitigung der Provinzverfassung sowie einer internationalen Vereinbarung zu erwirken. Und das war nun wieder der Fall, als eine Gewerkschaft mit Hilfe einer Streikaktion die Abschaffung der Privatbetten in staatlichen Spitälern (eine Angelegenheit, die in den Kompetenzbereich des Parlaments fällt) durchsetzen wollte, e Ähnlich in Italien, dessen wirtschaftliches Schicksal heute in den Zentralen der führenden Gewerkschaften entschieden wird. Die Regierung (bloß eine von den 36 der letzten 20 Jahre) trägt nur nach außen hin noch die Verantwortung; das Parlament hat längst seine Statistenrolle akzeptiert. Die negativen Auawüchse dieses Systems resultieren vor allem aus den fundamentalen Widersprüchen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüges. Es ist nicht die Lust zur Anarchie, die Italien in die schwerste wirtschaftliche Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestürzt hat, sondern der Wille der Gewerkschaften, mit unrealisierbaren sozialen Forderungen ihre Identitätskrise zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit zu :neistern.

• Ähnlich in Frankreich, wo die Regierung und Staatspräsident Giscard d'Estaing in ihrem Stabilitätsprogramm alle Lasten den Unternehmern und den Beziehern höherer Einkommen aufbürdeten, um so die großen Gewerkschaften des Landes stillzuhalten.

• Ähnlich in der Bundesrepublik Deutschland, wo der ehemalige Bundeskanzler Brandt von den eigenen Parteifreunden in der Gewerkschaft öffentlicher Dienst desavouiert wurde, schließlich scheiterte, und wo heute der Versuch der Bundesregierung, die Gewerkschaften auf eine mildere Lohnrunde für 1975 einzustimmen, am Widerstand der Gewerkschaften zu scheitern droht. Ganz so wie ÖGB-Präsident Benya in Österreich stellte jüngst der Chef einer großen bundesdeutschen Gewerkschaft fest, daß die Steuersenkungen keinen Einfluß auf die Höhe der Lohnforderungen haben würden. • Und ähnlich schließlich auch in Österreich, wo Bundeskanzler Doktor Kreisky als Getriebener des ÖGB-Präsidenten Benya eine ORF-„Reform“ des Gewerkschaftsbundes und nicht jene der Bundesregierung durchsetzen mußte; wo der Gewerkschaftsbund Regierung, Parlament und einen Teil der Massenmedien (heute die auflagenstärkste Tageszeitung, ab Spätherbst 1974 auch den ORF) beherrschen.

Trotz ihrer unkontrollierten Macht gerieren sich die Gewerkschaften als „armer Lazarus“, fest davon überzeugt, daß alle ihre Forderungen und Aktionen letztlich dem Allgemeinwohl dienen. Es ist dies, wie Michael Jungblut in der „Zeit“ so treffend schreibt, die uralte Geschichte vom Bettler, der es zum Millionär gebracht hat: über welche Mittel er verfügt, darf niemand wissen; andernfalls könnte er die Rolle nicht mehr weiterspielen und die Quelle seines Reichtums würde versiegen. So also tritt der „arme Lazarus“ in der modernen Industriegesellschaft weiterhin nach außen ärmlich auf, beklagt sein hartes Schicksal und die Ungerechtigkeit dieser Welt — und glaubt zuletzt selbst daran.

Die Ausübung ihrer oft auch unsichtbaren Macht läßt dabei die Gewerkschaften mitunter auf ihre ursprünglichen Aufgaben, die Verbesserung der sozialen Situation der tatsächlich unterprivilegierten Schichten der modernen Industriegesellschaft, wie etwa der Gast- und Hilfsarbeiter, vergessen. „Sie kümmern sich mehr darum“, klagt der linksliberale Professor Alan Day von der London School of Economics, „das Privileg von Lohnunterschieden zwischen einzelnen Kategorien von Arbeitern aufrechtzuerhalten, als die Interessen der wirklich Unterbezahlten zu verfechten.“

Daraus und aus der Tatsache, daß die Gewerkschaften heute in allen westlichen Industriegesellschaften selbst über hohe Kapitalien und über große Sachvermögen verfügen, resultiert der Vorwurf, sie hätten sich durch ihre Erfolge und ihre Marktmacht korrumpieren lassen. Tatsächlich tönt der Jammer der Gewerkschaften über die Ungerechtigkeiten im „kapitalistischen System“ hohl, solange die Gewerkschaften keinen Moment daran denken, im Bereich der von ihnen köntrollierten Unternehmen die Position des Kapitaleigners zu ändern. Längst trifft die generalisierende Gesellschafts- und Systemkritik der Gewerkschaften auf Positionen, die von ihnen selbst besetzt werden: so wollten einst Vorarlberger ÖGB-Angestellte gegen die schlechte Bezahlung durch den Gewerkschaftsbund streiken; mit durchaus kapitalistischen Methoden hat sich die gewerkschaftseigene „Bank für Arbeit und Wirtschaft“ unter die „großen sechs“ der österreichischen Universalbanken gehantelt.

Die Gewerkschaften in den europäischen Industriestaaten reden heute viel über die Sozialpflichtigkeit des Eigentums,, sie lehnen aber jegliche Diskussion über die Sozialpflichtigkeit ihrer Funktion bei den Lohnverhandlungen ab. Sie negieren ihre Schlüsselrolle in der Stabilitätspolitik und klagen über die Höhe der Handelsspannen, die Profitmachern der Unternehmer und die allgemeine „Preistreiberei“. Sie verteidigen ihr Recht, jede Lohnerhöhung durchzusetzen und rufen zugleich nach einer gesetzlichen Regelung der Preise.

Oft mögen Gewerkschaftsfunktionäre von der gesamtwirtschaftlichen Sinnlosigkeit ihrer Lohnpolitik überzeugt sein, oft sind sie auch Gefangene traditioneller Parolen und Getriebene kleiner, radikaler Gruppen. Sobald in den Gewerkschaftszentralen der Eindruck entsteht, daß Extremisten ihnen die Gefolgschaft verweigern könnten, setzen sie sich selbst an die Spitze der Bewegung. Das macht eine kommunistische Partei (auch in Österreich mit nur 50.000 notorischen Mitgliedern) so gefährlich: sie ist ein Hebel, mit dessen Hilfe die Gesellschaft aus den Angeln gehoben werden kann,

Gewerkschaftsfunktionäre sind anfällig für Kritik, weil sie erkennen, daß es ein latentes Mißtrauen zwischen der Mitgliederschar und den hochdotierten Aufsichtsräten gibt. Sie sind zugleich anfällig für radikale Forderungen, weil sie den Arbeitern stets aufs neue beweisen müssen, daß sie ihre Interessen vertreten.

Aus all diesen Gründen sind gewerkschaftliche Forderungen nicht von vornherein ein Ergebnis von Vernunft und Verantwortung. So wie alle anderen Ansprüche auch, müssen sie stets einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Ein Sozialpartner, der ganz offensichtlich unter einer Identitätskrise leidet, sollte bei allen seinen Aktionen an seinen ursprünglichen Aufgaben gemessen werden. Im Interesse einer „balance of powers“ muß Gewerkschaftsmacht kontrolliert und berechnet werden. Dem anderen Teil der Sozialpartnerschaft mangelt es heute an den Möglichkeiten, Gewerkschaftsforderungen auf das zu begrenzen, was die Demokratie und der Markt verkraften können. Deshalb fühlen sich die Gewerkschaften oft veranlaßt, jenen Punkt zu überschreiten, an dem ein Sieg einst einen Schritt vorwärts für das Kollektiv bedeutet hätte. Daran sollten die Gewerkschaften im eigenen Interesse gehindert werden, denn außerhalb des marktwirtschaftlichen Systems könnten sie als autonome Gewerkschaften nicht mehr agieren.

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