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Aussichten auf den Bürgerkrieg

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Hans Magnus Enzensberger, der einst als Achtundsechziger die politische Alphabetisierung Deutschlands forderte, hat seine ehemaligen Mitstreiter maßlos vergrämt.

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Hans Magnus Enzensberger, der einst als Achtundsechziger die politische Alphabetisierung Deutschlands forderte, hat seine ehemaligen Mitstreiter maßlos vergrämt.

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Seine These ist weitreichend, eindimensional und daher bestechend: Der klassische Staatenkrieg habe seine Bedeutung verloren. Einst bewährtes Mittel der Bereicherung, sei er zum Verlustgeschäft geworden und durch den Bürgerkrieg abgelöst worden. Die Exponenten dieses Bürgerkrieges seien weit gestreut und überdies vielfältig: Der Tschetnik in Bosnien, der texanische Ge-brauchtwarenhändler, der in die Menge schießt, der Bandenführer in Liberia, der Skinhead, der einen Ausländer grundlos niederschlägt, der Dschungelkrieger in Kambodscha, die Randalierer in den Pariser Vororten oder die tschetschenische Mafia - ihnen allen sei „der autistische - Charakter” wie auch „ihre Unfähigkeit, zwischen Zer-. Störung und Selbstzerstörung zu unterscheiden”, gemeinsam. Dabei hätte sich die Gewalt „von ideologischen Begründungen vollkommen freigemacht”.

Der wesentliche Unterschied zwischen bewaffneten Auseinandersetzungen der Nationalstaaten und dem „molekularen Bürgerkrieg” hege in der Zielorientierung: Während erstere stets ein Ziel verfolgten, wäre letzterer orientierungslos: Die modernen Nationalstaaten hätten Verfassungen ins Leben gerufen, die Leibeigenschaft abgeschafft, die Juden emanzipiert, den Rechtsstaat und das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt. Die heutigen Bandenkrieger seien an derartigen Neuschöpfungen nicht interessiert.

Enzensberger macht für diese Entwicklung die verzweifelte Situation der Verlierer angesichts ihrer aussichtslosen ökonomischen Lage, den Verlust generell akzeptierter Werte, die den Energiestau der Jugendlichen kanalisieren könnten, und die Überforderung gegenüber des heute völlig transparenten Unheils in aller Welt verantwortlich. Das Manifest gerät hier zur schonungslosen Abrechnung mit der in den Medien aus kommerziellen Gründen forcierten Darstellung der Gewalt und der Unehrlichkeit, mit der Menschenrechte zugleich verteidigt und mit Füßen getreten werden.

Eine Rückkehr zu konservativen Strukturen (Sitte, Anstand, Zucht und Ordnung) ist nach Enzensberger heute nicht mehr möglich, da politisch nicht durchsetzbar. Die Überwindung der weltweiten Krise sieht er in der „Tria-ge”. Dieses Wort entstammt dem französischen Militärvokabular und bedeutet die Selektion der Verletzten nach der Schlacht: Die Leichtverwundeten werden notdürftig versorgt und allein auf den Weg geschickt, die schweren Fälle mit geringen Überlebenschancen ihrem Schicksal überlassen und nur die dritte Gruppe in die Spitäler gebracht. Würde man allen Verwundeten eine optimale medizinische Versorgung geben wollen, wären die zur Verfügung stehenden Kapazitäten heillos überfordert und die gewährte Hilfe wäre im Endergebnis insgesamt wesentlich geringer.

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