6921355-1981_46_01.jpg
Digital In Arbeit

Aussteigen ist „in“

Werbung
Werbung
Werbung

Materiell geht es den Menschen in Mitteleuropa besser denn je, glücklicher sind sie deshalb nicht geworden. Bejahten im Jahr 1958 noch 44 Prozent der Bürger der Bundesrepublik Deutschland den Satz „Gestern war ich sehr gut aufgelegt“, so waren es 1973 nur mehr 39 Prozent und sind es 1981 nur noch 33 Prozent.

Diese Zahlen nannte Prof. Elisabeth Noelle-Neumann, Leiterin des Institutes für Demoskopie in Allensbach, vorige Woche vor

dem „Forum Schwarzenbergplatz“ im Wiener Haus der Industrie. Wie sie ausführte, sei festzustellen gewesen, daß mit der Anschaffung eines Fernsehgerätes die Freude an der Arbeit deutlich gesunken sei, und das, obwohl die Menschen im allgemeinen ihre Arbeit heute interessanter fänden als früher.

Die Räume am Schwarzenbergplatz konnten bei dieser Veranstaltung (Thema: „Aussteigen“ — Ein Ausweg in die Zukunft?) gar nicht alle Interessierten fassen, und entsprechend heiß ging es dann auch bei der Podiumsdiskussion zu. Im Zentrum stand das Verhältnis des Menschen zur Arbeit und zum Mitmenschen.

Eine exakte Definition des Begriffs „Aussteiger“ blieb nicht nur Elisabeth Noelle-Neumann, sondern auch Koreferent Ivan II- lich, der interessante historische Aspekte zum Thema Arbeit beisteuerte, schuldig. Wer fällt darunter?

Der Industriemanager, der sich eines Tages zum biologischen Landbau zurückzieht? Solches .Aussteigen“ ist nur einer Minderheit möglich.

Der Jugendliche, der seine Ausbildung oder berufliche Laufbahn freiwillig oder unfreiwillig ab

bricht und sich auf gelegentliche Jobs beschränkt? Ist er ein Aussteiger, oder ist er noch gar nicht eingestiegen?

Oder fällt jeder darunter, der Politik und Gesellschaft ignoriert und sich — wie weiland im Biedermeier — in seine Privatsphäre zurückzieht? „Die Zahl der innerlichen Aussteiger ist nicht gering“, meinte der Grazer Diözesanbi- schof Johann Weber.

Der freie Journalist Hademar Bankhofer sieht sich als „Ver- nunftaussteiger auf Zeit“, dem mehr Beziehung zur Natur und ein einfacheres Leben vorschweben. Er will den gängigen Mißbrauch der Freizeit nicht mitmachen.

Schließlich gibt es, wie Wiens Vizebürgermeister Erhard Busek andeutete, auf jedem Gebiet etliche, die sich nicht in den konventionellen Bahnen bewegen. Sind sie alle Halb- oder Teilaussteiger?

Der springende Punkt ist wahrscheinlich, ob Aussteigen bedeutet, mit einer Sache nichts mehr zu tun haben zu wollen, oder ob es bedeutet, eine Sache ganz anders angehen zu wollen.

Letzteres trifft auf die Alternativbewegung zu, die im Prinzip eher mit „Umsteigen“ als mit Aussteigen etwas zu tun hat.

Ein junger Mann erklärte in der Diskussion, er habe zwar seinen Beruf aufgegeben, engagiere sich aber nun für die Friedensbewegung und fühle sich eher als „Einsteiger“.

Die Zeitgeschichtlerin Univ.- Prof. Erika Weinzierl sah in einem Aussteigen, das anderen völlig das Feld überlasse, kein Modell für die Zukunft und bezeich- nete — unter Hinweis auf den heuer neu entdeckten Philosophen Ferdinand Ebner — die „Beziehung zum Du“ als entscheidend.

Mit der „Befreiung“ von herkömmlichen Autoritäten, Werten und Bindungen (Staat, Beruf, Kirche, Familie, Ehe) zwecks

„Selbstverwirklichung“ wird man jedenfalls — so Frau Noelle- Neumann — noch nicht glücklicher: „Zusammen mit dem Zurückweichen von Fremdzwängen hätte man fordern müssen, viel Energie der Aufgabe zuzuwenden, Menschen zum Selbstzwang fähig zu machen.“

Ihr Resümee: „Nur Selbstbeherrschung führt zu Selbstbewußtsein, ohne dieses gibt es kein Wohlbefinden (Glück).“

Die Ursachen für eigenes Unbehagen zunächst in der Umwelt und nicht bei sich selbst zu suchen, führe zu einer heute verbreiteten Wehleidigkeit und Passivität. Hier erwartet die Demoskopin in den nächsten Jahren ein Umdenken.

Sicher- an vielem kann der einzelne Mensch nichts ändern. Aber es zeigt sich immer mehr, daß der materielle Wohlstand ihm nicht genügt, denn der Mensch lebt nun einmal nicht vom Brot allein. Der Frage nach dem Sinn der Arbeit, des Lebens überhaupt, kann er sich nicht verweigern.

Es war an diesem Abend auch vom „Packeis“ die Rede, jenem Schlagwort der Zürcher Jugendbewegung für erkaltete, rein rationale Beziehungen, wie sie heute herrschen. Vielleicht ist es bezeichnend, daß wir heute jenseits von Gut und Böse zu sein scheinen und eher zwischen „nützlich“ und „schädlich“ unterscheiden.

Bischof Weber nannte zwei Wörter, die aus unserem Sprachgebrauch fast völlig verschwunden sind, zwischen denen sich aber jede echte Selbstverwirklichung abspielt: Tugend und Sünde.

Die großen christlichen Aussteiger - Erhard Busek nannte als Beispiele Franz von Assisi, Thomas Morus, die große und die kleine Theresa - haben mit diesen Begriffen jedenfalls noch sehr viel anzufangen gewußt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung