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Friedrich Heer, dessen umfangreiches Werk „Der Glaube des Adolf Hitler“ wohl eine der schwersten Denunziationen ist, die in jüngster Zeit ein Österreicher gegen sein Land erhoben hat, verfaßte das Vorwort, die Einstimmung für das vorliegende Werk des Amerikaners William J. Johnston. Und diese Einstimmung gelang bestens. Johnston fährt im Text fort, wo Heer aufgehört hat.

Damit Mr. Johnston zu der von ihm gewünschten Ansicht vom Kultur* und Geistesleben in Österreich zwischen 1848 und 1918 gelangen konnte, mußte er erst das wegsprengen, was man heute die frühere „angeblich heile Welt“ nennt oder die Fassade eines „bloß sentimentalen österreichertums“. Etwa: Die „Habsburgerbürokratie“, die sich in Trägheit gegen Fortschritt versuchte; die Verbitterung hervorrufende „Staatskiohe“; Privilegien als „Kontrolle von Neuerungsbestrebungen“; „Bestechlichkeit“ einer moralisch minderwertigen Bürokratie usw. usw.

Derlei Müll im Sinne Leo Trotzkis auf den Kehrrichthaufen der Weltgeschichte gefegt, zeigt dann der Autor die wahren „geistigen Leistungen“ Österreichs auf. Den ersten Rang in seiner Leistungsschau mißt Mr. Johnston Sigmund Freud zu. Nach diesem rangiert der Religionsphilosoph Martin Buber. Den dritten Rang nehmen ex aequo loco ein: Kafka, Joseph Roth und Musil. Der Österreicher dankt für die Erwähnung Musils, denn so kommt wenigstens der Text jenes Partezettels in das Werk, den Musil im Nachruf auf sein „Kakanien“ verfaßt hat: „Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land für Genies; und wahrscheinlich ist es daran zugrunde gegangen.“ Dieser fatalen Genialität war sich allerdings bereits längst vorher Kaiser Franz bewußt, als er von seinen genialischen Brüdern Karl und Johann sagte, nachdem sie ihre Kriege gegen Napoleon schließlich verloren hatten: „Dö zwa richteten mir ja zum Schluß no die ganze Monarchie z’grund.“

Was der Autor hinter der vermeintlichen bloßen Fassade Altösterreichs, übel, wie sie seiner Meinung nach ist, findet, sind die von dümmlichen oder bösartigen Österreichern diskriminierten Zimelien Kakaniens. Österreichs Kultur ist für den US-Amerikaner zuerst und zuletzt spekulatives Denken und dessen Ertrag. Damit gerät er in den Frontalzusammenstoß mit Hofmannsthal, der glaubt, „Österreich (sei) zuerst Geist geworden in seiner Musik“ und hätte „in dieser Form die Welt erobert“. Nicht einmal in Hörweite kam Mr. Johms’ton offenbar die Einschätzung Felix Saltens, wonach das „Aufblühen und Einwurzeln“ der österreichischen Musikalität „auf einem Fußbreit Erde“ kein Zufall sein kann, sondern „innere Notwendigkeit ist“. Bei solcher Betrachtungsweise entgeht natürlich dem Autor jenes „Reich der Kirnst“, von dem der Rektor der Wiener Universität bei der Promotion Anton Bruckners zum Ehrendoktor der Philosophie sprach: Das Reich

Bruckners, das anfängt, wo „die Wissenschaft endet, wo ihr unüber- steigbare Grenzen gesetzt sind“, ist für Mr. Johnston nur so etwas wie eine Zuflucht „verfolgter Neuerer“. Für den Respekt, mit dem zu Bruckners Zeiten der Rektor einer der beiden wel’tbedeutendsten Universitäten des deutschen Sprachraums dem Reich des Hilfslehrers aus Windhag Respekt erwies, fehlt dem Autor offensichtlich das Organ, um diese Größe inmitten der von ihm aufgestöberten schrillen Dissonanzen der spekulativen Wissenschaften wahrzunehmen.

Von der Geisteskultur Altösterreichs sagt der Autor gleich im Inhaltsverzeichnis und nachher auf den Seiten 39 ff., sie wäre im Zeichen eines „intellektuellen Übergewichts der Juden“ gestanden. Das rebus sic stantibus zu betonen, heißt Eulen naoh Athen zu ‘tragen. Die Frage dabei ist weniger die nach der also angenommenen Minderwertigkeit der „anderen“ in Österreich, als vielmehr die: Waren die vom Autor in den obersten Rang der Weltbedeutung erhobenen Juden aus Öster reich überhaupt Österreicher? Oder waren sie als die vielfach glaubenslos, auch haltlos und hoffnungslos gewordenen Söhne und Töchter ihrer eben aus dam selbstgewählten Getto hervorgekommenen Väter nicht vielmehr so un-österreichisch in ihrer Denk- und Handlungsweise, wie man es sich nur vorstellen kann? Und unterschieden sie sich nicht darin sowie zufolge ihrer indirekt auch von Musil diagnostizierten Fatalität vollends von jenen Juden, die — ob emanzipiert oder gläubig — Österreicher sein wollten und es bis zuletzt geblieben sind? Obwohl ihnen das die Nationalisten aller Nationen der Monarchie und gewissse A/ustria- zissimi sahwer genug gemacht haben? Die Namen dieser letzteren Juden sowie die vieler anderer Österreicher vermißt man allerdings im Text auf dem hinteren Umschlag des Buches, wo eine Art Ehrentafel österreichischer Geistigkeit (im Sinne des Autors), abgedruckt ist. In diesem Werk fehlen zu viele Namen, ohne die es unverständlich wird, warum Österreich zwischen 1848 und 1918 ein Kulturzentrum gewesen ist, ohne das die heutige Kultur der „freien Welt des Westens“ zum Teil überhaupt nicht denklfar wäre.

Indem er Kulturgeschichte aufzeigt, zieht der Autor eine Demarkationslinie, die gemäß seinen Ansichten und Werturteilen bedeutende Persönlichkeiten und deren Wirken von Tun jener „anderen“ trennt, die unwert und unbedeutend sind. Nicht genannt sollen letztere werden. Allein drei der 28 Kapitel des Werkes sind dem Phänomen Freud gewidmet, dessen Name im Namensregister die meisten Fundstellen vereinigt. Ginge es nach der vom Autor registrierten geistigen Strahlungsfrequenz, dann würden nach Freud im Rang Karl Kraus, der Philosoph Otto Weininger und Arthur Schnitzler erwähnenswert sein. Was diesen zu ihrer Zeit entgegenstand, anders dachte oder von ganz anderen Standpunkten aus Österreich und die Welt betrachtete, tut der Autor en passant als „klerikal“ oder „reaktionär“ und dergleichen ab. Derlei gehört zu jener Welt, die , angeblich nicht „heil“, sondern ganz und gar „un-heil“ war; wird als bloße Sentimentalität abgetan; ist Müll der Weltgeschichte.

Indessen: Wie unheil ist Mr. Johnston heile Welt von damals, bei deren Lobpreisung er sich nicht genug tun kann. Da ist die Selbstmordhäufigkeit in den gewissen Kreisen, die er — nicht unerwartet

— auf den vom Autor erkundeten Wurzelboden wahrer Geistigkeit antrifft. Das Schicksal jener Existenzen, die zwischen Salon und Irrenhaus pendeln. Wer Altösterreich so sieht, wie es Mr. Johnston gesehen wissen will, darf schreiben wie er. Daß nämlich für die allzu vielen hoffnungsvollen Typen, die eine reiche Hoffnung hinterließen, der Selbstmord tatsächlich „letzte Zuflucht“ in Kakanien war. Die Andeutung von „klerikaler“ oder „reaktionärer“ Intoleranz erspart es dem Autor, zu erforschen, was die wirklichen Ursachen jener kollektiven Neurose gewesen sind, die eine von Mr. Johnston adorierte Intelligenz serienweise befallen hat. Und unbeantwortet bleibt die Frage, wie sich denn jenes von allen guten "Geistern verlassene Kakanien gegen die mit ganzer Kraft einstürmenden Kräfte der sozialen und nationalen Revolutionen behaupten konnte, da es doch nur noch von den . minderwertigen“ Typen getragen wurde, während seine Genies es nicht mehr ertragen konnten.

Wem die elegischen Lesebuchgeschichten Joseph Roths gefallen, der weiß noch nichts von den Kräften, die die Monarchie im letzten Jahrhundert ihres Bestandes zu dem machten, was auch Mr. Johnston da und dort nolens volens anerkennen muß. Die skurrilen Dümmlichkeiten Heramanovsky-Orlandos erklären die Existenz des österreichischen ebensowenig wie die an Schreibtischen und in adeliger Umgebung verfaßten „Reportagen“ in Karl Kraus’ „Letzten Tagen der Menschheit“. Von den Absurditäten Musils und den düsteren Prophezeiungen Kafkas ganz zu schweigen.

Es gehört viel Mutwilligkeit dazu, ausgerechnet in den USA der siebziger Jahre von hoher Warte über die Morbidität Altösterreichs herzuziehen; über „bestechliche Beamte“ (sic); über Intellektuelle, die aus einer Gesellschaft ausziehen, die für sie unausstehlich geworden ist, und nicht zu bemerken, wie die Scheiben jenes Glashauses klirren, in dem der Autor sitzt und Steine schmeißt. Mr. Johnston urteilt nicht nur, er verurteilt. Er liefert einer Kulturpolitik, die hic et nunc en vogue ist, die Stichworte, um endlich in Österreich tabula rasa machen zu können. Die Vergangenheit, die der Autor aufzeigt, „bewältigt“ man nicht erst, man wirft sie weg. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Nicht die Diagnose von Krankheitsherden und akuten Erkrankungen am Körper Altösterreichs wird hier kritisch beurteilt. Vielmehr ein Parteiismus des Autors, der an Altösterreich nur dort Gutes findet, wo dieses konform mit der in der angelsächsischen Lebensform samt den dazugehörenden Richtungen philosophischen Glaubens existierte. Genauer gesagt: Mister John son betreibt mit diesem Werk nicht Geschichtsforschung, sondern einen Historizismus, wie dieser von jener Ideologie instruiert ist, nach der einmal die Engländer ihre „Schwarze Legende“ gegen das Haus Habsburg betrieben und Woodrow Wilson zu jenem Kreuzzug auszog, der Zentraleuropa in jenes Pandämo- nium verwandelt hat, das selbst Winston Churchill erschreckte und zum nachträglichen Bedauern ver- anlaßte.

ln diesem strikt gezogenen System von Abszissen und Ordinaten hat auch ein „Reformkatholizismus“ seinen Platz. Immerhin geht es ja um das „katholische Österreich“. Im Antiklerikalismus des Autors ist dieser Reformkatholizismus (und nur dieser markiert Niveau) unlösbar mit dem philosophischen Glauben zweier Priester verhaftet, die den Boden des Katholizismus verlassen haben: Mit jenem des späteren Mathematikers und Philosophen Bernhard Bolzano (geb. 1848) und jenem des Philosophen Franz Brentano (gest. 1917). Deren angebliche Katholizität respektiert der Autor. Ihr Abfall vom Katholizismus ist ihm Hinweis auf die Rückständigkeit, Intoleranz und Unbrauchbarkeit des „Restes“, der „zurückbleibt“.

Mr. Johnston zitiert Freud, wo dieser Geschichtsbezogenheit zu den Neurosen zählt. Aber geschiohts- bezogener, gestützt auf die vielfach bereits gewesene Wissenschaftlichkeit des 19. Jahrhunderts, ist bis unlängst wohl kaum eine Kultur- und Geistesgeschichte geschrieben worden, als die vorliegende, Altös’ter- reich betreffende. Nichts ist bezeichnender für das mißlungene Porträt, das der Autor von Österreich um 1900 gemacht hat, als sein Hinweis, das Österreich der Jahrhundertwende sei „heute höchstens noch“ in „Nordamerika oder in Großbritannien“ anzutreffen. Also dort, wo das, was naoh zwei Weltkriegen von der europäischen Kultur blieb, jetzt seine schwersten Krisen und Deformierungen mitmacht.

ÖSTERREICHS KULTUR- UND GEISTESGESCHICHTE. Von William M. Johnston. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1918. Hermann Böhlaus Nachfolger, Wien 1974, 503 Seiten (aus dem Amerikanischen übersetzt).

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