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Autonomie oder Unterordnung

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Am Freitag und Samstag dieser Woche besteigt die EG in Edinburgh neuerlich einen Gipfel. Die Zukunft des „Maas-trichf-Programms steht zur Debatte. Den uneinigen EG-Europäern stehen in der EG-Integrationsfrage zerrissene EFTA-Staaten gegenüber. Was ist der Standort Österreichs? Herrscht hier eine klare Vorstellung vom komplexen Ganzen?

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Am Freitag und Samstag dieser Woche besteigt die EG in Edinburgh neuerlich einen Gipfel. Die Zukunft des „Maas-trichf-Programms steht zur Debatte. Den uneinigen EG-Europäern stehen in der EG-Integrationsfrage zerrissene EFTA-Staaten gegenüber. Was ist der Standort Österreichs? Herrscht hier eine klare Vorstellung vom komplexen Ganzen?

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Österreichs Antrag um Mitgliedschaft bei der Europäischen Gemeinschaft (EG) wurde Mitte 1989 gestellt, um primär wirtschaftliche Vorteile zu erreichen. Österreichs Wirtschaft war Mitte der achtziger Jahre ins „Trudeln" geraten. Dieses Bild änderte sich 1988/89. Die Wirtschaft wuchs hier wieder kräftiger als in vergleichbaren Ländern. Damit war es ab diesem Zeitpunkt schwieriger, den Österreichern den EG-Beitritt aus rein wirtschaftlichen Gründen schmackhaft zu machen. Noch immer wird in der politischen Diskussion viel zu wenig auf die politischen Gründen für einen EG-Beitritt eingegangen. Hier geht's um zwei Aspekte: um das Sicherheitsdilemma und den Verlust der Souveränität.

In der Staatengemeinschaft sorgt jeder einzelne Staat - manchmal auch in Verbindung mit anderen Staaten - für seine Sicherheit. Diesem Zweck dient meist eine bewaffnete Macht. Dieses militärische Rüsten zum Zwek-ke der Verteidigung kann vom Nachbarstaat aber als Druckmittel und sogar als Vorbereitung für einen Angriff (miß)verstanden werden. Da es keine den Staaten übergeordnete Macht gibt, wird der Nachbarstaat versuchen, sich eine zumindest adäquate Verteidigung anzuschaffen, um vor „Überraschungen" gefeit zu sein. Dies führt möglicherweise wieder dazu, daß dessen Nachbarn ihre Verteidigungsanstrengungen verstärken.

Um diesem „Sicherheitsdilemma" zu entgehen, ist es unbedingt erforderlich, Vertrauen zwischen den Staaten zu schaffen. Das Ziel der internationalen Politik ist nun der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zur Schaffung einer „Sicherheitsgemeinschaft", in der Kriege zwischen den Staaten praktisch ausgeschlossen sind. Dies ist in der internationalen Politik leider nur selten gelungen.

Ein für die Gründungszeit wichtiger Grund für eine erfolgreiche Verwirklichung der EG war der Ost-West-Konflikt. Die EG wurde als ein Instrument zur Stärkung des Westens angesehen. Außerdem erlaubte er die Konzentrierung auf die wirtschaftlichen Bereiche. Die Sicherheitspolitik der EG-Staaten wurde gemeinsam mit den USA und anderen Staaten in der NATO behandelt.

Durch die sogenannte Einheitliche Europäische Akte aus 1986 ging die Bildung von Vertrauen zwischen den EG-Staaten noch weiter. Mit dem Abbau der wirtschaftlichen Binnengrenzen per 1. Jänner 1993 öffnen sich die EG-Staaten gegeneinander noch weiter. Eine einzelstaatliche Kontrolle des Wirtschaftsgeschehens wird immer schwieriger sein. Der Vertrag über die Europäische Union (der „Maastrichter Vertrag") treibt diesen Aspekt der Grenzöffnung noch weiter voran.

Der Wegfall des Ost-West-Konfliktes hat aber dazu beigetragen, daß die EG in erhebliche Turbulenzen geraten ist. Die militärischen

Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien haben die Uneinigkeit, das gegenseitige Mißtrauen der EG-Staaten im Sicherheitsbereich aufgedeckt.

Ein Hauptgrund für diese Turbulenzen liegt wahrscheinlich auch darin, daß die Bevölkerung in den EG-Staaten den weiteren „Grenzabbau" zu fürchten beginnt. Denn die Wanderungsbewegungen von Ost nach West, hervorgerufen durch das starke Wohlstandsgefälle, stärkt die Angst vor den Fremden, obwohl die Freizügigkeit innerhalb der EG sich nur auf EG-Bürger bezieht. Trotz aller dieser Turbulenzen ist die EG-Integration wahrscheinlich noch immer das beste Instrument zur Vermeidung des Sicherheitsdilemmas.

Die sicherheitspolitische Funktion der Neutralität lag während des Ost-West-Konfliktes darin, das neutrale Territorium aus diesem Konflikt herauszuhalten, zu „isolieren". Im Europa von heute wird Vertrauen, aber auch wirtschaftliche Entwicklung, wahrscheinlich nicht so sehr durch „Isolierung", sondern vielmehr durch Kooperation und Öffnung hervorgerufen werden.

In der österreichischen Diskussion über eine EG-Mitgliedschaft spielt auch die Angst vor einem Souveränitätsverlust eine große Rolle. So meinen manche Wirtschaftsexperten, daß es besser sei, den (geringen) Spielraum, den Österreich in der Wirtschaftspolitik besitzt, nicht aufzugeben und die gesamte Ökonomie der EG nicht unterzuordnen.

Ein kleines Gedankenexperiment soll aufzeigen, daß die Alternative „Autonomie - Unterordnung" viel komplexer ist. Nehmen wir an, daß in der österreichischen Wirtschaftspolitik 90 Prozent vom Ausland (davon 60 Prozent von der EG, der Rest von GATT, USA und so weiter) bestimmt werden und nur zehn Prozent von den Entscheidungsträgern im Inland. Nach der angeführten Argumentation würden nach einem EG-Beitritt 100 Prozent vom „Ausland" (= EG) entschieden werden.

Jedoch sieht das Bild nach einer österreichischen EG-Mitgliedschaft schematisch folgendermaßen aus: Auch in der EG wird die

Wirtschaftspolitik nicht zu 100 Prozent von den EG-Institutiqnen entschieden. Nehmen wir also an, daß Österreich noch drei Prozent Entscheidungsfreiheit bleiben. Außerdem gewinnt Österreich ein Mitentscheidungsrecht in der EG. Es kann aber nicht nur bei den 60 x Prozent mitbestimmen, die es bisher „automatisch" von der EG übernehmen mußte. Österreich hat auch Einfluß auf die EG-Politik gegenüber dem GATT, den USA et cetera. Damit gewinnt aber Österreich Einflußmöglichkeiten über die angeführten 60 Prozent hinaus - nehmen wir hier 70 Prozent an.

Das bedeutet insgesamt, daß Österreich zwar bei sieben Prozent seiner Wirtschaftspolitik seine Autonomie aufgibt, hingegen bei 77 Prozent (also einschließlich des in die EG „eingebrachten" Anteils an der Wirtschaftspolitik) eine Mitbestimmungsmöglichkeit erhält. 20 Prozent der EG-Wirtschaftspolitik (und damit der österreichischen Ökonomie) würden von außen, also GATT, USA und so weiter bestimmt.

Nun kann natürlich sofort eingewendet werden, daß ein Kleinstaat innerhalb der EG wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten hat. Er hat jedoch bei seiner Wirtschaftspolitik innerhalb der EG zumindest gewisse Gestaltungsmöglichkeiten erhalten. In Summe bedeutet unser Gedankenspiel, daß Österreich durch einen EG-Beitritt die Autonomie in einem kleinen Bereich seiner eigenständigen Wirtschaftspolitik aufgeben muß, in einem erheblich größeren Bereich jedoch Mitbestimmung erlangt. Viel wird auch davon abhängen, wie geschickt die Österreicher ihre Interessen in den EntScheidungsprozessen der EG (auch in Koalition mit Delegierten aus anderen Mitgliedstaaten) vertreten werden.

Wenn es zu einer Volksabstimmung über die EG-Mitgliedschaft kommt, stehen die Österreicher vor einer einigermaßen komplexen Entscheidungssituation. Es ist nur zu hoffen, daß in der Diskussion diese Komplexität nicht total unter den Teppich gekehrt wird.

Dr. Paul Luif ist Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik in Laxenburg.

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