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Auwald, frühes Jubeln

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Es ist Ostern, und die Erde beginnt neu zu grünen. Der Winter war lang und kalt, mit solchen Massen von Schnee, als wolle eine Sintflut aus Flocken alles Lebendige unter dem schimmernden, schönen, kalten, lautlosen Schneetod ersticken. Die Märzsonne war warm, aber sie hatte nichts Tröstliches, sondern machte uns beinahe blind vom Widerschein auf dem Weiß, das alles bedeckte. Auch als der Schnee schon fast weggeschmolzen war, sahen die Auwälder bei Fischamend noch aus, als wäre es hoffnungslos, nach einem solchen Winter noch auf grünendes Leben zu warten. Man meinte, der letzte Saft in den Reisern sei zu Eis geworden, und alle Knollen und Wurzeln und Samen im Boden müßten erstorben sein für immer.

So haben wir es dieses Mal wirklich als Wunder erlebt, daß sich in der Tiefe das keimfähige Leben trotz allem erhalten hat und nun unter der letzten dünnen Eisschicht erwachte und sich schwellend bäumte, um nach zwei weiteren Sonnentagen geradezu ungestüm in inständiges Knospen und Blühen auszubrechen. Immer bleibt so etwas zwar wunderbar, und unter tausend vernünftigen, erfaßbaren Ursachen, die Leben bewirken, ist stets ganz und gar unbegreiflich die eine Ur-Sache verborgen, die man nur mit dankbarem Staunen und ergriffenem Schweigen anbeten kann.

Am letzten Sonntag waren wir wieder in Fischamend. Von dem Damm aus, der zwei tiefgelegene Auwälder trennt, sah man weit über die schleierigen, schäumenden Erlenkronen, an denen noch kaum eine Blattknospe zu sehen war; doch eine Ahnung, die als Saft in die Zweige und Ruten stieg, färbte die Landschaft anders als sie noch vor ein paar Tagen war. Die lichtgrauen Zweige waren rosig behaucht, wie Kranken im tiefen Genesungsschlaf das Blut in die Wangen steigt. In der Ferne verschwamm alles zu einem lilabraunen Hauch. Noch nirgends Grün. Noch kein jubelndes, kräftiges Leuchten von Farben. Die tropfenden Zirplaute der Vögel klangen fragend, als wagten sie es noch nicht zu glauben, daß die lange bange Zeit des Hun-gerns und Frierens zu Ende geht.

Die Bäche und Tümpel sind wieder voll Wasser, und der Donauarm weiter drüben schwillt bewegt, voller Wellen und Wirbel. Unter dem Moos und den dicken Lagen staubdürren oder feuchtmodernden Vorjahrslaubes gluk-kert es leise. Geriesel. Knarren von Ästen, die der Wind aneinander scheuert. Lauter zaghafte, hoffende, verhaltene Geräusche, die nur die Stille vertiefen.

Und dann sahen wir unten zwischen den lichten Erlenstämmen etwas Weißes — nicht Schnee, der war gänzlich verschwunden; auch nicht den matten Schimmer der hellen Rinden, sondern reinstes, kühlstes, glänzendstes Weiß: Schneeglöckchen.

Wir rannten den Damm hinunter und drangen dann mit langsamen Schritten, die krachend und raschelnd in der lockeren graubraunen Laubschicht einsanken, in die Auen ein. Unbegreiflich, daß wir es nicht weithin leuchten gesehen hatten! Denn da drinnen war alles frisch und grün von den in Büscheln stehenden lanzettenförmigen Blättern der Schneeglöckchen, und schon nach ein paar Schritten ins dichtere

Gesträuch, wo der Wind das dürre Laub nicht so hoch anhäufen konnte, standen wir inmitten eines gotischen Teppichs, auf den Tausende weißer Blüten gestickt waren. Welche Uberfülle! Es war wirklich Frühling, ringsum und in uns, und wir standen ein paar Se-kungen regungslos da. Aber dann hätte man die Freude nicht länger aushalten können ohne sie in Bewegung umzusetzen, und wie als Kinder stürzten wir uns ins Blu-menpflücken.

Die Hände voll dicker Schneeglöckchenbüschel gingen wir weiter und kamen an einen der tief ins Gesträuch und die blaßgelben Schilffelder eingespren-gelten Tümpel. In seiner tiefen Mulde stand etwas Wasser und darauf schwammen regungslos, die weißen Bäuche nach oben gekehrt, Hunderte tote Fische. Vielleicht hatten sie unter der Eisschicht, die hier monatelang die Wasseroberfläche bedeckte, zu wenig Luft bekommen, vielleicht war der Tümpel heuer bis auf den Grund zugefroren und sie waren im Eis erstickt ohne zu verwesen, bis die Schneeschmelze kam und sie als unversehrte Leichen an die Oberfläche trieb.

Niemand von uns hat in all den milderen Wintern geahnt, daß die grünlichschwarzen, von Schlamm und Wasserlinsen überzogenen Autümpel eine solche Fülle an Fischen bergen, darunter viele große Karpfen und lange schlanke Hechte mit bösem Gebiß. Erst die lautlose Katastrophe ihres Massensterbens hat uns verraten, daß hier wimmelndes Leben geherrscht hat. Es war beklemmend, daß sie nun zutage kamen, tot und dem Verfaulen in der Sonnenwärme ausgesetzt.

Aber ich glaube, wenn wir in einiger Zeit wieder hierherkommen und eine Angelschnur zwischen dem dicken, grünlichen Belag ins Dunkel hinabsenken würden, dann wäre inzwischen auch hier ein Wunder geschehen. Das Wunder der Fischvermehrung. Das Wunder der Erneuerung des Lebens und der Fülle an Nahrung, die das Leben erhält. Das Wunder der ewigen Brotvermehrung.

Und so ist mir an diesem glücklichen Tag alles zum zuversichtlichen Gleichnis geworden. Meine Gedanken wenden sich dem zu, der uns symbolhaft gezeigt hat, daß die Fülle niemals aufhört, weil die Liebe niemals aufhört; IHM, der für uns zum Brot des ewigen Lebens geworden ist.

Der Winter war lang und kalt, aber jetzt ist es wieder Ostern geworden, und die Erde wird grün wie eh und je.

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