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Bach in Brügge

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Wer aus Wien nach Brügge kommt, dem ist die Stadt nicht nur durch Reminiszenzen, die sich auf die österreichische Geschichte beziehen, vertraut, sondern er hat sie auch auf derA Opernbühne gesehen, als „Tote Stadt“, wie die gleichnamige Oper von Erich Wolfgang Korngold nach dem Roman von Rodenbach heißt. Der flämische Dichter lebte von 1855 bis 1898, also in der Zeit, als Brügge, nach der Versandung seines Hafens vom Meer getrennt, bereits eine „tote Stadt“ war. So wurde für den mit seinem gleichfalls französisch, schreibenden Landsmann Maeterlinck befreundeten Georges Rodenbach Brügge Symbol einer melancholisch-pessimistischen Weltschau, die geprägt ist von einem mystischen Katholizismus, ähnlich dem Verlaines. „Eine Mahnung zu Frömmigkeit ging von dieser Stadt aus, von den Mauern ihrer Spitäler und Klöster, von ihren zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien ..

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Wer aus Wien nach Brügge kommt, dem ist die Stadt nicht nur durch Reminiszenzen, die sich auf die österreichische Geschichte beziehen, vertraut, sondern er hat sie auch auf derA Opernbühne gesehen, als „Tote Stadt“, wie die gleichnamige Oper von Erich Wolfgang Korngold nach dem Roman von Rodenbach heißt. Der flämische Dichter lebte von 1855 bis 1898, also in der Zeit, als Brügge, nach der Versandung seines Hafens vom Meer getrennt, bereits eine „tote Stadt“ war. So wurde für den mit seinem gleichfalls französisch, schreibenden Landsmann Maeterlinck befreundeten Georges Rodenbach Brügge Symbol einer melancholisch-pessimistischen Weltschau, die geprägt ist von einem mystischen Katholizismus, ähnlich dem Verlaines. „Eine Mahnung zu Frömmigkeit ging von dieser Stadt aus, von den Mauern ihrer Spitäler und Klöster, von ihren zahlreichen Kirchen, die in steinernen Chorhemden niederknien ..

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Von den fünf Städten, in denen von Anfang Juli bis Ende September das Flandern-Festival stattfindet, hat Gent das reichste, Brügge das profilierteste Programm. In Gent gibt es vielerlei Konzerte und szenische Aufführungen, von Cavalieris „Rap- presentazione" in der Kathedrale bis zu Kompositionen von Ligeti sowie gespieltem, gesungenem und getanztem Mahler („Lieder eines fahrenden Gesellen“ in der Choreographie Bėjarts). In Brügge begann man in der ersten Augustwoche mit einem internationalen Cembalowettbewerb und setzte dann mit einer siebenteiligen Konzertreihe fort, die Bach und *einen Zeitgenossen gewidmet war.

Fünf dieser Konzerte fanden im Memlingmuseum (einem ehemaligen Spitalssaal aus dem 13. Jahrhundert) vor herrlichen Bildern flämischer Meister sowie in vier der sechs großen prächtigen Kirchen der Stadt statt: in der Salvatorskathedrale, Sint Gilliskerk, St. Walburgakerk und St. Annakerk. Und fast alle Konzerte waren ausverkauft, was deshalb bemerkenswert ist, weil die großen Räume bis zu 1200 Personen fassen und etwa Zweidrittel der Besucher zu den jüngeren Jahrgängen gehören. Dieses erfreuliche Ergebnis ist den Veranstaltern, dem Professor Robbrecht Dewitte, seinen Kollegen Boereboom, Prof. Dr. J. Robijns und Dhr. D. Huys nicht in den Schoß gefallen: Seit 1964 wird hier vorklassische Musik gepflegt und wird die Jugend für das Neue-Alte gewonnen. Städtische und staatliche Stellen, eine "Bank und der Belgische Rundfunk unterstützen diese Bestrebungen — aber die organisatorische Arbeit wird von den vielen jugendlichen Helfern (Schülern, Studenten und Angehörigen aller möglicher Berufe) freiwillig und unentgeltlich geleistet. Jüngere Menschen sind also die Wirte und die Gäste, und man findet sie auch auf dem Podium.

Die sieben Mitglieder des vor zwölf Jahren in Brüssel gegründeten Alarius Consorts spielen auf alten Instrumenten und pflegen einen strengen Stil. Am ersten Abend musizierten sie, mit Solisten aus Belgien, Frankreich und Österreich (Isolde Ahlgrimm, die auch die Cembalo-Jury präsidierte) die Ouvertüre Nr. 2 sowie die Konzerte für zwei Cembali in C-Dur und c-Moll von Bach und spielten dazwischen eine Sonate für Flöte, Viola zwei Gaben und Continuo von Franęois Couperin.

Das zweite Konzert brachte sämtliche sechs erhaltenen Motetten von Bach mit der Gächinger Kantorei und dem mit dieser häufig zusammenwirkenden Bach-Collegium

Stuttgart. Von dem ein wenig „vegetarischen Stil“ der Alarius-Leute hob sich der Vollblutmusiker Helmuth Rilling, der ein hervorragender Chorleiter ist, wirkungsvoll ab. Er läßt seinen ausgezeichneten mittelgroßen Chor von nur elf Instrumen- talisten begleiten und aus voller Brust singen. Da wird nichts stilisiert und auch nicht auf einem ständigen Mezzopiano bestanden. Eindruck und Erfolg waren entsprechend. Ein Werk großartiger als das andere, und in dieser Interpretation kamen auch kaum Zweifel an der Autorschaft Bachs von „Lobet den Herren alle Heiden“ auf…

Einen ersten Höhepunkt setzten die Stuttgarter, wieder unter Helmuth Rilling, mit einer ebenso aus gefeilten wie intensiven, klangschönen Aufführung der Hohen Messe in h-Moll mit etwa 60 Männer- und Frauenstimmen. Die guten bis sehr guten Solisten waren Maria Friesenhausen (BRD), Lucienne van Deyck (Belgien), Roland Bufkens (Belgien) und Sigismund Nimsgern (BRD).

— Neben ihnen müßten mindestens ein halbes Dutzend Instrumentalsolisten erwähnt werden, es sei wenigstens der exzellente Trompeter hervorgehoben.

Unter dem Titel „Musica poly- phonica" wurden in Sint-Anna-Kerk zwei selten zu hörende Werke aufgeführt: die „Ode auf den Tod von Mr. Purcell“, die dessen Lehrer John Blow 1708 in liebevollem Gedenken an seinen ehemaligen frühverstorbenen Schüler geschrieben hat, und eine fast einstündige Johannespassion von A. Scarlatti.

Die Ode von Blow auf einen Text von John Dryden ist für zwei Contratenöre, zwei Blockflöten und Continuo gesetzt, und wäre nicht Louis Devos der Hauptinterpret gewesen, der seit mehr als 20 Jahren als Sängerstar auf vielen internationalen Festivals gefeiert wird, so wäre der Gesamteindruck ein recht schwacher geblieben. Zwischen Werk und Wiedergabe war auch bei dem folgenden Werk zu unterscheiden: Scarlattis getreu dem Text folgende Johannespassion ist ein einziges nur an wenigen Stellen unterbrochenes Riesenrezitativ, begleitet von zehn Spielern auf alten Instrumenten, während die „Turbae“ von einem Gesangsquartett gebildet werden. Die Kunst,’ mit der das gemacht ist, erscheint bemerkenswert, im ganzen aber ist das Werk ermüdend, weil wir weder Türken noch Inder sind, uns also seit mindestens einem halben Jahrtausend der Monodie entwöhnt haben und an ein so umfangreiches Werk „polyphone“ Ansprüche stellen. Aber die Ausführung war überzeugend, wobei hervorzuheben ist, mit welcher Meisterschaft Devos die Riesensolopartie beherrschte und mit welchem Minimum von gesti - schem Aufwand er von seinem Pult aus das Ensemble leitete.

Ein besonders instruktives und künstlerisch wertvolles Programm hatte sich das Collegium aureum zusammengestellt: J. S. Bachs Ouvertüre Nr. 1 in C, ein Oboenkonzert von Philipp Emanuel Bach und die c-Moll-Sinfonie von Johann Christian Bach (dem Londoner): für die Eigenart der drei Mitglieder der Bach-Familie besonders charakteristische Werke, während die dazwischen gespielte Suite in D von Telemann für Viola da Gamba und Streicher nicht mehr war als eben eines von den 4000 Werken des kultivierten Routiniers.

Dieses „Collegium aureum“ ist ein Ensemble besonderer Art; man hat es auf verschiedenen Musikfesten als eine „wiedererstandene Hofkapelle“ gefeiert. Es besteht ausschließlich aus bekannten Solisten und Hochschullehrern aus Deutschland, Holland, der Schweiz, Österreich, England und Belgien, die sich intensiv ausübend und forschend mit alter Musik beschäftigen. Besonders glanzvoll kommt es in alten schönen Räumen zur Geltung. Sein souveräner Leiter ist Franz Josef Maier.

Der Kern des Collegium instrumentale Köln ist das Ojstersek- Quartett, das im Memling-Museum drei Teile aus der „Kunst der Fuge“ spielte. In den folgenden beiden Stücken, der e-Moll-Sonate und der Triosonate aus dem „Musikalischen Opfer“ trat der Starflötist des Westdeutschen Rundfunks, Hans-Jürgen Möhring, glanzvoll hervor. Für das 3. Brandenburgische Konzert begnügte man sich mit Septett-Besetzung und erreichte zeichnerische Deutlichkeit. Aber hat Furtwängler, der dieses Konzert gerne selbst spielte und vom Konzertflügel aus leitete, nicht mehr enstrebt und erzielt? Hier hörte man es deutlich: Bach kann man auf sehr verschiedene Arten spielen, nur darf das motorische Element, das manche seiner schnellen Sätze haben, nicht als maschinelle Bewegung mißverstanden werden…

Einen letzten Höhepunkt gab es in der Sankt-Walburga-Kirche am letzten Abend dieser wohlgelungenen Bach-Woche. Bei der einleitenden D-Dur-Ouvertüre (eigentlich Suite Nr. 3) brillierten noch einmal die Instrumentalisten des Collegium aureum, insgesamt 21 Mann. In der Kantate „Ich bin vergnügt“, für Sopran und in dem abschließenden „Magnificat“ wirkte unter der Leitung von Aime de Haene der „Koor Cantores Brugge“ mit. Ihren Glanz empfing diese Aufführung freilich mehr von den vier Solisten I. Partridge, ‘S. Nimsgern, Lucienne van Deyck, Alt, und Elisabeth Speiser (Zürich), deren wohlausgebildeter, klangschöner Sopran und deren intelligenter Ausdruck sie zur Oratorien- und Liedsängerin prädestinieren.

Schließlich sei noch ein Bach-Konzert des Genfer Organisten Lionel Rogg erwähnt. Rogg, Jahrgang 1936, ist Professor für Orgel und Kontrapunkt am Konservatorium in Genf und hat auf 18 Langspielplatten das gesamte Orgelwerk Bachs aufgenommen.

Was den Besucher aller dieser Konzerte immer wieder bewegte, war die Frage (ein Gedankenspiel!), was denn Bach zu diesen Interpretationen von heute gesagt hätte. Und was zu den verschiedenen Instrumenten. Ob er die historisierende Wiedergabe wirklich der „modernen" vorgezogen hätte? Er selbst mußte sich ja als Thomaskantor mit jeweils zwölf bis fünfzehn Knabenstimmen begnügen, denn die 40 bis 50, die ihm zur Verfügung standen, mußten meist auf vier gleichzeitig stattfindende Gottesdienste aufgeteilt werden. Und Instrumentalisten werden’s wohl nicht mehr gewesen sein. Und die Instrumente in ihrer heutigen Klangfülle? Ob er sie abgelehnt hätte? Bach war vor allem ein Praktiker der Musik, er interessierte sich für alle technischen Neuerungen, hatte aber — entgegen der weitverbreiteten Meinung — für theoretisch-mathematische Spekulationen wenig übrig. Paul Hindemith hat in seiner Rede beim Hamburger Bach- Fest 1950 darauf hingewiesen, daß Bach sich zu den theoretischen Hintergründen seiner Kunst indifferent verhalten habe. Auch war er, was das eigene Schaffen betrifft, von einer austemhaften Verschwiegenheit. Fugen und Doppelfugen zu schreiben und allerlei Formkunststücke zu beherrschen — das gehörte zum Handwerk. Zahlreiche Werke von Zeitgenossen Bachs, die in die Konzerte eingestreut waren, demonstrierten immer wieder den Unterschied zwischen dem nur handwerklich Gekonnten und dem Genie, das sich bei Bach eindeutiger manifestiert, und zwar in allem, was er schrieb, als bei jedem anderen Komponisten vor oder nach ihm.

• Anton Der mot a sang bei einer Aufführung der „Matthäuspassion" in der Laibacher Philharmonie die Partie des Evangelisten, sein Schüler Takao Nakasaw a die Partie des Jesus. Kammersänger Prof. Anton Dermota, der die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien erhielt, wird zum fünftenmal der Jury beim Internationalen Gesangwettbewerb in s’Hertogenbosch angehören und gleichzeitig in Hilversum ein Liedprogramm zeitgenössischer österreichischer Komponisten beim Rundfunk absolvieren.

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