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Bäuerlich leben ist keine Idylle

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Der Bauernarzt und Dichter Hans Klopfer hat einmal über die ländliche Bevölkerung seiner südsteirischen Heimat vor einem halben Jahrhundert gemeint: „Sie sterben lieber, bevor sie um Hilfe rufen.“ Zum Teil durch die Unersetzlichkeit der bäuerlichen Arbeitskräfte, zum anderen Teil aus christlicher Duldsamkeit gegen körperlichsoziale Schmerzen ist dieses lange Ertragen von unerträglichen Zuständen im Landbereich wesent lieh verbreiteter als im städtischen Raum.

Die langzeitige materielle Abhängigkeit der Jugend von der älteren Generation in der Landwirtschaft und das daraus resultierende Erleben eigener Machtlosigkeit fördern die passive Grundhaltung.

Eine Untersuchung, die mit einer Gruppe von Teilnehmern an Veranstaltungen der Familienpannenhilfe, einer Selbsthilfeorganisation für Familien in Krisen, gemacht wurde, brachte folgende Ergebnisse, die an einer Vergleichsgruppe von Familien ohne akute Krisen bestätigt wurden:

Familien aus dem ländlichen Bereich (nicht in Städten und

Großgemeinden wohnhaft) nützten ihre Begabungs- und Interessenpotentiale viel weniger aus als Menschen aus dem städtischen Raum. Viele wußten nicht einmal, daß sie intelligent waren. Uber Krankheit, Leid, Schmerzen zu sprechen, fiel entscheidend schwerer als bei der Urbanen Bevölkerung.

Nach Geburten, Krankheiten, Operationen gab es kaum Scho-nungs- und Rehabilitationszeit. Die Angebote der Krankenkassen für Familienurlaube wurden wenig in Anspruch genommen. Zustände von Erschöpfung und Depression wurden nicht selten verheimlicht und als „Schande“ empfunden. Die Angst vor der abschätzigen öffentlichen Meinung ist groß.

Wissen über Pflege, Hygiene, Früherkennung von Krankheiten wird zwar in Veranstaltungen für Erwachsenenbildung und in ländlichen Schulungs- und Fortbildungsangeboten berücksichtigt, findet aber nicht die Verbreitung, die diesem Wissensgebiet zusteht.

Die Erziehungspraktiken sind drastisch, meist herabsetzend, angstbesetzt, und sexuelle Kontakte zwischen Verwandten werden häufiger geduldet und versetzen die Jugendlichen in einen Zustand von Hilflosigkeit und dauernder Scham.

Mangels anderer Fluchtwege (Sozialkontakte, Konsumangebote) finden zunehmend Jugendliche und Ältere die Scheinlösung ihrer Probleme im Alkohol und geraten immer mehr in den Zirkel psychosomatischer Selbstschädigung, wie sie insbesondere bei Pendlern, also Menschen, die auch noch in ihrer Verwurzelung bedroht sind, auftritt. Immer häufiger kommt es zu Gastritis, Asthma, gynäkologischen Beschwerden und Herzzuständen.

Die Öffnung unseres Landes für den Fremdenverkehr erzeugt ein Erleben zunehmenden Konkurrenzdenkens unter den Nachbarn und ein steigendes Gefühl der Heimatlosigkeit. Ein alter Bauer sagte mir einmal, er fühle sich wie ein Indianer: „Bald werden wir kein Land mehr haben.“

Die Städter, die als Urlauber wieder auf das Land zurückflüchten, aber durch ihr verlockendes Freizeit-Konsumverhalten bei der ländlichen Bevölkerung das Gefühl der Benachteiligung erzeugen, tragen weiter zur Lockerung der positiven Seite traditioneller Stützung bei, indem sie das Brauchtum vermarkten, die ländliche Kultur käuflich machen und auch Wachstumsprozesse behindern. Denn echtes Wachstum braucht Zeit.

Hier und jetzt gerade das tun zu können, was man gern tut, ist etwas, was bei der Befragung zum Lebensstil der ländlichen Bevölkerung am schwersten fiel — sehr zum Erstaunen der teilweise städtischen Befrager.

Es gilt, diesem Teil der österreichischen Bevölkerung das Gefühl der Wertschätzung wieder zu geben und zu erhalten. Ihre Fähigkeit, sich auszudrücken und ihre Nöte formulieren zu können, wären wichtige Ansätze zur Erhaltung ihrer körperlichen, seelischen Gesundheit, von der letzten Endes die Zukunft Österreichs maßgeblich abhängt.

Die Autorin ist Mitarbeiterin am Institut für Tiefenpsychologie der Universität Wien und des Instituts für Lebensstil. Sie berichtet über die Ergebnisse einer Befragung von 431 Personen aus dem ländlichen Raum.

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