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Bajonetten-Sozialismus

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Ais am 17. September 1939 die lote Armee die polnische Ostgrenze überschritt und in den nächsten Tagen und Wochen—gemeinsam mit Hitlers Wehrmacht - der Polnischen Republik den Todesstoß versetzte, fiel ein „Eiserner Vorhang“ über jenen Landesteil Polens, der nach dem geheimen Abkommen des Hitler-

Stalin-Paktes vom 23. August 1939 der Sowjetunion zugesprochen worden war.

Wie vollzog sich überhaupt der Einmarsch der Roten Armee 1939 in Polen? Wie haben ihn die Polen dort erlebt?

Lange Jahre war - außer aus Studien einiger Fachzeitschriften — kaum etwas über das Schicksal der Polen unter sowjetischer

Herrschaft von 1939 bis 1941 bekannt. Jetzt liegt über das Thema ein ausgezeichnetes Werk vor.

Der Autor, Jan T. Gross, Professor für Soziologie, 1947 in Warschau geboren, verließ 1969 - nicht ganz freiwillig- seine Heimat und wohnt jetzt in den USA. Er absolvierte seine Studien an der Yale-Universität. Bei einem Forschungsauftrag stieß er in den Archiven des Hoover-Instituts in Kalif ornien auf historisch brisante Dokumente, die für die Öffentlichkeit bis dahin noch nicht ausgewertet worden waren.

Es handelte sich hier um etwa 20.000 Fragebögen mit persönlichen Angaben über polnische Bürger, die zwischen 1939 und 1941 die sowjetische Besatzung erlebten, 1942 Angehörige der in der UdSSR aufgestellten bürgerlichen Polnischen Armee unter General W. Anders wurden und in deren Rahmen die Sowjetunion via Iran verlassen konnten. Sie waren von der Exil-Regierung in London aufgefordert worden, Auskünfte über ihre Erfahrungen ainter dem Sowjetregime zu geben.

Professor Gross hat diese Fragebögen systematisch aufgearbeitet und zum Thema auch andere persönliche Quellen erschlossen. Er suchte auch etliche Landsleute in verschiedenen westlichen Ländern auf und befragte sie. So entstand ein reiches Konglomerat von Informationen und Dokumentationen, die sich zumeist auf die Anfangsphase der Besatzungszeit beziehen, aber auch über die späteren Haftbedingungen, Deportationen und das Leben in Kriegsgefangenenlagern berichten.

Das Buch „Die Revolution aus dem Ausland“ ist inhaltlich in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil ist der sowjetischen Besatzung Ost-Polens gewidmet. Hier wird auch über Versuche berichtet, den Invasoren militärischen Widerstand zu leisten.

Das Erscheinungsbild der Roten Armee wird geschildert und keineswegs verschwiegen, daß es viele Orte gab, in denen die einheimische — weißrussische oder ukrainische — Bevölkerung Stalins Streitmacht als Befreier empfing. Und dann der Alltag: Die Organisierung der Dorfyersamm-lungen, die Verkündung des Klassenkampfes, Verhaftungen in großen Zahlen, Beschlagnahmung von Gütern und mannigfaltige Formen der aus Not geborenen Selbstunterwerfung.

Der zweite Teil führt vor Augen, wie der Sozialismus mit den Bajonetten durchgesetzt wurde. Polens Ostgebiete wurden noch vor Ende 1939 staatsrechtlich der UdSSR einverleibt. In „Wahlen“ und „Volksabstimmungen“ mußte die werktätige Bevölkerung demonstrieren, daß sie Mitglied der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden wollte.

Nachdem dies vollzogen war, konnte man im großen Stil die Abrechnung mit den „feindlichen Elementen“ beginnen. Der Autor bietet hier dem Leser eine reiche Palette dieses Geschehens, das von den Haftbedingungen der Verschleppten bis zur Deportation von mehr als 1,2 Mülionen Polen ins Innere der Sowjetunion reicht.

Wenige wissen, daß der heutige starke Mann Polens, General Wojciech Jaruzelski, damals als Siebzehnjähriger gemeinsam mit seinen Eltern deportiert wurde. Seine Eltern überlebten den Transport nicht. Er selbst kam in ein Arbeitslager im Norden der UdSSR, von wo aus es ihm gelang, sich für die damals aufgestellte polnische Division „Kosziuszko“ als Freiwilliger zu melden. Damit begann seine militärische Laufbahn.

Das Buch ist eine wertvolle Ergänzung sowohl zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges als auch zur Dokumentierung einer aggressiven Entwicklungsphase des Stalinismus.

REVOLUTION FROM ABROAD. Von Jan T. Gross. Princeton. New Jersey 1988.333 Seiten. Eine deutsche Ubersetzung ist in Vorbereitung.

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