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„Bald ein Museum“

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„Die Straßen sind sicher. Die Luft ist rein. Es gibt keine Slums. Die Abfallkübel haben schalldämpfende Gummipuffer. Die Bevölkerungszahl geht zurück. Allein im letzten Jahr wurden 20.000 Rosenstöcke und 18.000 Bäume gepflanzt, und als sich im letzten Jahr im einzigen See der Stadt Pflanzenwachstum ausbreitete, antworteten die Behörden mit dem Import von 10.000 chinesischen unkrautfressenden Fischen. Diese Traumstadt eines jeden Planers ist Österreichs majestätische alte Hauptstadt Wien, eine königliche Witwe, deren 1,6 Millionen Einwohner entschlossen sind, jede Modernisierung, die der alten Lady etwas von ihrem Charme rauben könnte, zu bekämpfen.

Wiens Kampf, alles so zu belassen wie es immer war, wurde in einem unschätzbaren Ausmaß dadurch unterstützt, daß die alliierten Besatzungsmächte nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zehn Jahre benötigten, um zu einem Übereinkommen über einen Friedensvertrag mit Österreich zu gelangen. Als die Viermäch teherrschaft 1955 endete, hatten Wiens Stadtplaner genügend Zeit gehabt, sich von jener Art Wiederaufbau, wie sie jenseits der Grenze in Westdeutschland gehandhabt wurde, mit Grausen abzuwenden und zu der Erkenntnis zu gelangen, daß die glänzende alte Hauptstadt der Habsburger sehr gut ohne dies auskommen konnte. Konsequent erhielt die Wiederherstellung solcher Wahrzeichen wie der weltbekannten Staatsoper und vom Krieg verheerter Teile der alten Innenstadt Priorität. In den späten fünfziger Jahren war dieses Werk so weit gediehen, daß nur noch wenige Spuren des Krieges zu sehen waren.

Seither wirkten Bevölkerungsabnahme und Österreichs Konjunktur zusammen, um der Stadt eine wachsende Liste von Vorteilen zu verschaffen. Wiens Rathaus investierte 260 Millionen Schilling in ein Fernheizwerk, das mit Hilfe von Müllverbrennung 44.000 Wohnungen mit Wärme versorgt. Als eine neue Wasserleitung gebaut wurde, lieferte Wien allen Anrainern des Quellgebietes sanitäre Installationen.

Das Rathaus, seit Generationen von der Sozialistischen Partei beherrscht, arbeitet nunmehr so effizient, daß die Stadt gegenwärtig sogar einen Überschuß herauswirtschaftet. Die Stadtverwaltung ersparte Wien durch Errichtung von 5000 subventionierten Wohnungen pro Jahr die Entstehung von Slums, es hat in Wien keine Ausschreitungen, Streiks oder Massendemonstrationen gegeben, die nach einigen Jahren noch erwähnenswert wären. Wien weitet seine öffentlichen Fürsorgemaßnahmen von erstaunlicher Reichweite, darunter billige Mieten, Mahlzeiten und Begräbnisse sowie kostenloser .Kaffee mit Kuchen' in 122 Treffpunkten für alte Mitbürger, konstant aus.

Die Verbrechensrate ist in Wien sehr niedrig. Letztes Jahr gab es beispielsweise nur 28 Morde und

301 Raubüberfälle in der Stadt. „Falls es hier jemand wagt, sich an öffentlichem Eigentum zu vergreifen, schimpfen die Leute und ballen ihre Fäuste“, meint stolz ein Geschäftsinhaber.

Demnach ist das Verkehrsproblem Wiens einziges ernstes Problem — Wien teilt es mit anderen Städten. In den vergangenen Monaten hat eine schnell anwachsende Zahl von Autos mit ihrem Lärm und Gestank verschiedene Einwohner der Innenstadt veranlaßt, diese zu verlassen und Geschäften und Büros zu überlassen. Um die Flucht der Innenstadt-Bewohner zu stoppen, verbannte die Stadt die Kraftfahrzeuge aus dem Umkreis der Stephanskirche — ein erster Schritt zum totalen

Fahrverbot in der historischen Innenstadt, ausgenommen Autobusse und Untergrundbahn.

Der Stadtplaner von Los Angeles, Victor Gruen, der Wiens geplante Untergrundbahn entwarf, erklärt diese für einen Teil des Vorhabens, „die Altstadt den Menschen zurückzugeben“. Sollte die Untergrundbahn nicht gebaut werden, warnt Gruen, könnte Wiens Stadtzentrum leicht den Weg seiner amerikanischen Gegenstücke gehen, deren schöne Wohnbauten nun Bestattungsunternehmen und Versicherungsgesellschaften beherbergen. Gruen: „Das Herz der Städte hat damit sein Lebenshlut, das seine Einwohner darstellen, verloren. Wir wollen nicht, daß dies in Wien geschieht.“

Es ist vielleicht nicht überraschend, daß fast die einzigen Wiener, die sich dem Weg, den die Dinge in ihrer Stadt nehmen, verschließen, zur unruhigen Jugend gehören. Sie registrieren mürrisch, daß ein Viertel der Bevölkerung mehr als 60 Jahre alt ist, daß der Anonymität schwer beizukommen ist und daß, wenn es so weitergeht wie jetzt, die Stadt bald ein Museum sein wird, eine „Pensionopaiis“, wie sie es manchmal nennen.

Aber für den Großteil der übrigen, die hier leben, ist Wien genauso, wie sie es sich wünschen. „Manche Ausländer. erklären Wien zur sterbenden Stadt, weil es nicht wächst“, meint Otto En-gelberger, Wiens Chefstadtplaner, in Zusammenfassung der allgemeinen Ansicht, „aber genau das Gegenteil trifft zu. Es ist das schnelle Wachstum, was tötet — und die begrenzte Größe, was das Leben in einer Stadt angenehm macht.“

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