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Simone Weil: Balken des Kreuzes - Gleichgewicht der Welt

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Simone Weil hat kein systematisch geordnetes Werk, kein „Lehrgebäude”, hinterlassen. Vor ihrem 50. Todestag (am 24. August) stellt sich die Frage: Ist Simone Weil aktuell?

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Simone Weil hat kein systematisch geordnetes Werk, kein „Lehrgebäude”, hinterlassen. Vor ihrem 50. Todestag (am 24. August) stellt sich die Frage: Ist Simone Weil aktuell?

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Vieles von dem, was gedruckt vorliegt, war nicht zum Druck bestimmt. Schreiben war für Simone Weil eine Übung, um den Abstand zwischen Wissen und von ganzer Seele wissen zu überbrücken. „Ihre Thesen leben aus der Vernunft und münden im Bekenntnis” (Ingeborg Bachmann). Ihre Existenz war überspannt. Überspannt von einer kompromißlosen Genauigkeit im Denken und im Leben. Sie ist eine Wurzel und kein später Trieb; ihre Radikalität nahezu autistisch und doch nicht isoliert. Es ist nicht vonnöten, sie begrifflich zu entschlüsseln; man kann sie beim Wort nehmen, wenn man die einmalige Bedeutung einiger Begriffe bei ihr erkannt hat: Unglück, Gnade, Aufmerksamkeit, Schwerkraft, Gehorsam, Entwurzelung, Einwurzelung, Gleichgewicht.

„ Man muß über ewige Dinge schreiben, um mit Sicherheit aktuell zu sein...” (Simone Weil)

Ist Simone Weil aktuell? Kein Trend in Theologieoderphilosophischer Literatur schreit nach ihr. Askese ist noch nicht gefragt. Manche ihrer Gedanken rücken sie in die Nähe der Theologie der Befreiung, andere in die der Theologie der Gottes-Verdunkelung. Ihr Denken ist so wild und doktrinfrei, daß es sich nicht einordnen läßt. Etwa, wenn sie lapidar feststellt, ein Grundbedürfnis der Seele wäre „Gehorsam gegenüber festgesetzten Regeln und Gehorsam gegenüber menschlichen Wesen, die als Vorgesetzte gelten”. Wenige Zeilen später attackiert sie die Profitgesellschaft: „Die, welche einen Zustand begünstigen, in dem die Verlockung des Gewinns der Hauptantrieb ist, nehmen den Menschen die Möglichkeit des Gehorsams, denn die Zustimmung, auf der er beruht, ist nichts, das sich verkaufen ließe.”

Simone Weil überzeugt als Schöpferin eines Lebens-Werkes, in dem Denken und Tun eins sind. Mit fünf Jahren weigert sie sich, Zucker zu essen, um ihn den Soldaten an die Front zu schicken. Als junge Gymnasialprofessorin klopft sie mit den Arbeitslosen von Le Puy 1931 außerhalb ihres Schuldienstes Steine. Ähnliche gelebte und nicht proklamierte Solidaritäts- und Selbsterfahrungen sind auch ihre Einsätze als Fabriksarbeiterin 1934/35 und als Krankenpflegerin im Spanischen Bürgerkrieg. Für ihren Tod 1943 war entscheidend, daß sie sich - durch Krankheit geschwächt - weigerte, mehr zu essen als hungernden Frauen in Frankreich zur Verfügung stand. Auf ihrem Totenschein ist zu lesen: „Sie tötete sich selbst durch ihre Weigerung zu essen, während ihr seelisches Gleichgewicht gestört war.” Aber gerade, was das Gleichgewicht anlangt, attestieren ihr alle Interpreten und Biographen eine Empfindlichkeit allerhöchsten Grades:

„Sie möchte immer ihr volles Gewicht der leichteren Waagschale beisteuern, um mit ihrer zerbrechlichen Person die Ungerechtigkeit der Welt aufzuwiegen. Wo auch immer will sie der Gewalt die Stirn bieten, selbst dann, wenn sich herausstellen sollte, daß Gott irgendwann tatsächlich bei den stärkeren Bataillonen wäre, dann würde sie - Antigone heute - auch noch gegen diesen Gott zum Widerstand aufrufen und zwar mit der Begründung, daß dieser Gott nicht der wahre, sondern allenfalls ein Götze sein könne”. Flucht aus dem Lager der Sieger ist für Simone Weil moralische Pflicht.

Das Unglück der Arbeiter

Heinz Abosch, der Herausgeber der Sammlung ihrer politischen Schriften unter dem Titel „Unterdrückung und Freiheit” nennt ihre theoretischen Schriften zur Arbeit das Scharfsinnigste und Prophetischeste zum Thema seit Marx. Wesentliches hat sich an ihrem Befund bis heute nicht geändert. Neue Rationalisierungsmaßnahmen und neue Technologien bringen eher eine Verschärfung, den Taylorismus nennt Simone Weil die perfekteste Form der Sklaverei, ausgeprägt in der Norm am Fließband. Hand in Hand mit der Norm gehen Prämien bei Übererfüllung und die Kündigung bei Nichterfüllung. Taylor, der amerikanische Pionier auf dem Gebiet der Produktivitätssteigerung, glaubte, ein Instrument sozialer Gerechtigkeit gefunden zu haben. Simone Weil aber erlebte, daß die Folgen Isolation, Konkurrenzkampf vmA vor allem Monotonie sind. Und mit der Monotonie „beginnt der moralische Zerfall des Menschen”. Aber aus diesem soziologischen Befund springt Simone Weil ins Spirituell-Paradoxe: sie sieht gerade in diesem Unglück des Arbeiters eine besondere Auszeichnung. In seiner Monotonie hat der Arbeiter keine Ziele und keine Wünsche mehr, die sich zwischen den Menschen und Gott stellen. Die ihm die Sicht verstellen. „Er braucht nur den Kopf zu heben, um zu sehen, daß ihn von Gott nichts trennt”. Aber die Schwierigkeit ist nur, ihn dazu zu bringen, den Kopf zu heben.

. Simone Weils Abrechnung mit dem Marxismus - notwendigerweise für sie unter Einbeziehung des Göttlichen: Das Soziale ist an sich kein Gut, man hat nur die Pflicht, das Böse einzuschränken. Der Marxismus aber setzt das Soziale absolut und wird so zur Ersatzreligion mit eschatologischer Propaganda. „Nicht Religion ist Opium des Volkes, sondern Revolution”. Denn: erst das Göttliche ist das Licht, das dem Menschen, der sich ihm ergibt, ermöglicht, die Wirklichkeit zu sehen. Alles andere ist Einbildung.

Die „Abwesenheit Gottes”

Simone Weil spricht von der Aufmerksamkeit auf und von der Liebe zu Gott, akzeptiert nur, was aus göttlicher Sicht gesehen ist, und stellt sich zugleich als die „Verkünderin der Abwesenheit Gottes” dar. Ja, sie verteidigt sie, sie sehnt sie herbei, denn erst in der Abwesenheit Gottes erkenne sie seine Anwesenheit. Christus -so sagt sie - ist unser Vorbild, weil er nackt und wirklich tot war. Der wichtigste Teil seiner Sendung war seine Gottverlassenheit.

Wir müssen aufhören, uns als den Mittelpunkt der Welt zu denken. Alles, was zu diesem Mittelpunkt-Denken führt, erfährt ihre radikale Kritik. Die Leere ertragen, darauf zu verzichten, das All mit dem Ich ausfüllen zu wollen, das ist ein Wesenskern ihrer Aussagen, dem man in verschiedenen Ausformungen immer wieder begegnet. Sich ausdehnen wollen, das Titanische, das „Seid umschlungen” der Neunten von Beethoven, ist hier als Gegenhaltung zu nennen. Gott an irgendeinen menschlichen Mittelpunkt binden - ein Ich, einen Staat, eine Gesellschaft, ja sogar eine Kirche mit Attributen der Göttlichkeit verbinden - heißt, die Gerechtigkeit vernichten, die Finsternis verbreiten.

Die Abwesenheit Gottes wird vom Menschen als Schmerz, als Unglück erlebt. Da jeder Mensch die Abwesenheit Gottes erfährt, erleidet jeder Mensch Unglück. Durch Einbildung kann er sich darüber hinwegtäuschen. Und bei Erkenntnis seines Unglücks kann er zwei Wege gehen: den der Gnade, diese Leere für sich zu ertragen, und den der Sünde: diesen Schmerz aus Wut und Enttäuschung in Haß zu verwandeln.

Mit zweiunddreißig trifft sie Pater Joseph-Marie Perrin, bald Prior des Dominikanerklosters in Montpellier. In Gesprächen und Briefen ihm gegenüber gibt sie vor allem immer wieder darüber Rechenschaft, warum sie nicht Zutritt zur katholischen Kirche verlangt. Ihm gegenüber äußert sie Zuneigung zu und Kritik an der Kirche. Der geistige Weitblick des blinden Dominikaners und seine Offenherzigkeit machen dies möglich. Und vor allem das Fehlen jeglichen Drängens. Sie schreibt zum Beispiel:

„Wenn ich das Neue Testament lese, die Mystiker, die Liturgie, wenn ich die Messe feiern gehe, fühle ich mit einer Art Gewißheit, daß dieser Glaube der meine ist, oder genauer, sein würde ohne die Entfernung, welche sich zwischen mir und ihm (gemeint ist Gott), meiner Unvollkommenheit wegen, befindet”. Und so gilt auch den außerhalb der Kirche stehenden, den im Glauben erfolglosen, ihre Perspektive, und ihre Sympathie, was sie zu einer Art Schutzheiligen unserer Zeit emporhebt: .Jedenfalls, wenn ich mir den Akt meines Eintritts in die Kirche als etwa Tatsächliches vorstelle, ist mir nichts so schmerzlich wie der Gedanke, mich von der ungeheuren und unglücklichen Masse der Ungläubigen zu trennen.”

Diese Briefe, vor allem den vierten, kirchlicherseits einmal gründlich zu diskutieren, in dieser fundamentalen Kritik einer glühenden Sympathisantin, wäre eine schonungslose Gewissenserforschung.

Am Dienstag, dem 24. August 1943 in der Nacht starb Simone Weil im Exil in England. Zur Beerdigung auf dem Friedhof in Ashford kamen acht oder neun Personen. Ein Priester, der sie hätte einsegnen sollen, hatte in London den Zug versäumt.

Entwurzelung - Einwurzelung

„Die Einwurzelung” (L'Enracine-ment) könnte man ihr Vermächtnis nennen, die Summe der Erfahrungen ihres Lebens Ideen von faszinierender Aktualität. Diese Arbeit entstand vor ziemlich genau 50 Jahren in den letzten Monaten ihres Lebens und sollte für eine Charta der Menschen-und Bürgerrechte als Grundlage dienen, mit der man in Europa nach dem Krieg geistige und soziale Wiederaufbauarbeit leisten wollte.

Verwurzelung - Entwurzelung - Einwurzelung: drei Worte, die beinahe physisch fühlbar sein können.

Entwurzelung geschieht heute weltweit durch die Macht des Geldes und durch Profitmaximierung im Wirtschaftsleben: „Wo das Geld eindringt, zerstört es die Wurzeln... indem es alle anderen Triebkräfte durch das Verlangen nach Bereicherung ersetzt?..” Und Entwurzelung geschieht durch ein Bildungswesen, das ausr schließlich auf ein erfolgreiches Wirtschaftsleben ausgerichtet ist, auf möglichst effiziente Technik.

Ein Weil'scher Merksatz könnte lauten: Wer entwurzelt, ist der Entwurzelte! Wer verwurzelt ist, der entwurzelt andere Wesen nicht. Entwurzelung ist auch die Ursache dafür, daß die Situation der Arbeiter und der Bauern unerträglich genannt werden muß: Der Hauptgrund der Entwurzelung der Arbeiter ist die Entziehung der Verantwortung, der aktiven Teilnahme an der Gesellschaft.

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