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Balthasars Vision

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Und das Leben wird zum einzigen tiefen Atemzug — dieser Satz strömte nicht aus Balthasars Gemüt, der eher müde als heiter auf dem asphaltierten Weg dahinging, sondern erinnerte an irgend etwas oder an irgend jemanden, etwa so: wer könnte das behauptet haben? Zugleich auch so: Schau, schau, eine Wahrheit erdröhnt im Orgelton; wobei es gänzlich ausgeschlossen ist, daß in der Nähe Orgel gespielt werden kann.

Der Satz änderte sich jedoch unerwartet, schlug in eine Gemütsart um, und Balthasars Füße verloren den Halt am glatten Straßenbelag. Er schritt auf dem Kies eines Waldpfades, und pfeifend suchte er mit einer quirligen, zugleich verwunderten Bewegung nach dem Pfadfinderdolch, der an seiner Seite hing.

Seine Müdigkeit war verflogen, er holte tief Atem, um sich mit dem Leben zu identifizieren. Er sah genau, in zweifacher Gestalt, in Beobachtenden und Beobachteten gespalten, sich den Berghang hinaufklettern. Es überraschte ihn nicht, daß er in seinem Bestreben nicht den so nahe winkenden Gipfel erreichte, sondern sich vor dem Gebäude der Nationalbank wiederfand.

Der Platz um ihn war wie ausgestorben, die Steine, die Blumen, die Pilze verschwanden, nur die Bank und der Asphalt starrten ihn an: von unten, von der Seite, aus jeder Richtung. Auch dann, wenn er sich umdrehte? Ja, auch dann! Es schien, als wäre er in eine Falle geraten, die vergitterte Auslage der Bank rückte jetzt noch näher. Eine Reihe Gitter, eine Reihe Glas. Oder eine Reihe Monokel. Jedes Monokel blinzelte: Betreten des Rasens verboten! Warum ist das Betreten des Rasens verboten? Balthasar konnte diesem Gebot nicht zustimmen, protestierte aber nicht dagegen, er dachte, dies sei auch eine der überflüssigen Anweisungen, welche zur Langeweile des ereignislosen Lebens beitrügen.

„Balthasar!" hallte der, den ganzen Platz erfüllende Ruf, der selbst die Gitter zum Beben brachte.

„Ja", eilte gierig Balthasar mit der Antwort, um sie nicht zu versäumen, um auf seine Gegenwart hinzuweisen und auch darauf, daß er eigentlich schon lange darauf wartete, angesprochen zu werden.

„Balthasar" erscholl es wieder „du bist geboren, um Weihrauch und Myrrhe dem darzubringen, in dem das Wort Gestalt annahm."

„Gestalt annahm, Gestalt annahm" rollte das Echo gleich einem flinken Ball den Asphalt entlang. Unbändig streckte Balthasar sein Bein nach ihm aus, um ihn weiterspringen zu lassen, er besann sich jedoch, dies könnte als unschicklich gedeutet werden. Unmöglich, in den Ball zu treten.

Er suchte die Stimme, er war-, tete, daß sie auch Wort werde und Gestalt annehme. In der Ferne jaulte ein streunender Hund, dies konnte jedoch Balthasars Aufmerksamkeit nicht ablenken, seine Augen hafteten am Glas. Hinter der Scheibe stand ein weiß gekleideter Engel, seine ausgebreiteten Flügel hüllten den Vorraum der Bank in Dunkel.

„Grüble nicht über die Länge meiner Flügel" rief der Engel gereizt. „Ich möchte mit dir über dein Leben plaudern."

„Uber mein Leben", wiederholte Balthasar gehorsam.

„Du lebtest schlecht, hast vieles verfehlt, obwohl ich dir auf dem Waldpfad beistand, erinnerst du dich?"

„Und wie, gerade zuvor, kaum bevor ich... ich hier ankam, fast zugleich..."

„Was stotterst du, das ist schon gute dreißig Jahre her."

„Dreißig Jahre?" starrte er mit weit aufgerissenen Augen den Engel an.

„Ja, genau dreißig Jahre." Die Stimme des Engels war traurig.

„Du weißt alles", flüsterte B?l-thasar. „Es ist unnötig meinen Kopf über Rechtfertigungen zu zerbrechen, du weißt ja auch, daß..."

„Ich weiß", schnitt ihm der Engel das Wort ab.

Balthasar jedoch ließ sich nicht unterkriegen. Er wolKe gestehen, er wollte beichten.

„Ich sah den Schrecken in den Augen der Hunde, und auch den irren und mörderischen Blick der geistesverwirrten Besitzer."

„Gut, gut, du hast das bemerkt, weil du von neugieriger Natur bist."

.Hätte ich die Leine aus der

Hand des Fremden reißen sollen? Und selbst wenn ich so gehandelt hätte, wohin mit dem Hund? Du kennst doch meine Wohnung, weißt, wie eng ich wohne. Wie hätte dort ein zweites, sich nach Liebe sehnendes Wesen Platz gefunden?"

„Du warst immer schon von ängstlicher Natur, Balthasar, und dachtest, es genügte, sich in deinem Inneren über andere zu erbarmen, den jedoch, der in deiner Nähe lebte, wolltest du mit deinem eigenen Schicksal bedek-ken."

„Es war kalt und im Haus fand sich keine andere Decke."

„Am Ende bliebst du doch allein. Warum? Darüber ist jedes Wort überflüssig. Ich will nicht, daß du über deine Vergangenheit jammerst. Ich will, daß du die Offenbarung wahrnimmst. Jedermann hat das Recht, sie wenigstens einmal mit aufmerksamem Herzen zu hören. Freilich kann es vorkommen, daß ehe ich noch beginne das Böse erscheint, und nicht erlaubt, dein Leben zu erlösen. Wirst du mich vor dem Bösen schützen, Balthasar?"

Balthasar richtete sich vertrauensvoll auf. Aber es blieb nicht einmal so viel Zeit, daß die Genugtuung in seinem Inneren ausströmte, schon erschien auf der anderen Seite der Auslage ein dunkler Schatten. Mit seinen riesigen, in Krallen endenden Händen, näherte er sich dem Engel. Balthasar sprang zur Tür. Die Tür war versperrt. Dann bemerkte er den Stein, den jemand nach den Straßenarbeiten liegen gelassen hatte. Er nahm die hinter den Gittern blitzende Scheibe ins Ziel. In diesem Augenblick ertönte die Alarmanlage. Balthasar erschrak nicht. Er hörte zur Wandlung klingeln. Der Engel und der Schatten verschwanden. Menschen sammelten sich auf dem Platz, umzingelten Balthasar. Vor der Nationalbank fuhren Polizeiautos mit Sirenenton vor. Jemand gab ihm einen Stoß, er fiel auf den Asphalt, verlor sein Bewußtsein.

Viel später saß er vor einem älteren Herren, der goldumrandete Brillen trug. Er saß ruhig, Andacht erfüllte sein Herz. Er hatte das Gefühl, alles gesagt zu haben, und daß die Stille sich gleich einem demütigen Punkt, hinter sein Evangelium neigte. „Wir glauben Ihnen alles", erklärte der Polizeireferent mit den goldumrandeten Brillen, dies sagte er jedoch nur, damit die Schande der Ungläu-bigkeit ihm nicht sofort die Zunge band.

Der Autor, ungarischer Schriftsteller aus der Slowakei, war eine der führenden Figuren des Prager Frühlings und lebt seit Jahren im Wiener Exil. Demnächst erscheint in der Edition Roetzer sein Erzählungsband „Die letzte Jagd".

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