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Bangen um das Leben Sacharows

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Moskaus Olympia-Boykott trifft sich mit anderen Aktionen der Sowjetführung, die auf eine spürbare Verhärtung hindeuten. In Zeiten der Schwäche reagiert der Kreml stets mit Erstarrung.

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Moskaus Olympia-Boykott trifft sich mit anderen Aktionen der Sowjetführung, die auf eine spürbare Verhärtung hindeuten. In Zeiten der Schwäche reagiert der Kreml stets mit Erstarrung.

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Trotz der unter den gegebenen Umständen überaus schnellen Ansammlung von höchsten Ämtern in Sowjetstaat und Partei ist Konstantin Tschernenko nicht oder noch nicht auf dem Höhepunkt der Macht vergleichbar jener Breschnews Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Dazu fehlen ihm Zeit, Fähigkeit und Gesundheit.

Ja, auch der neue Kremlherr ist krank, wie sich spätestens beim jüngsten Besuch des spanischen Königs im Kreml herausgestellt hat. Der Stärke des Parteiführers entspricht der weltweite Einfluß des Kreml und dessen Reaktion auf internationale Spannungen.

Tschernenko, der pedantische Bürokrat auf der Kommandobrücke des Ostens, ist wohl kaum der Mann der Außenpolitik, wie es Andropow sehr wohl hätte sein können. Von diesem übernimmt er die Rüstungssituation, nachdem Moskau durch Unbeweglich-keit die Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing geradezu provozierte. Von Rüstungsabbau oder Rückkehr an den Verhandlungstisch keine Spur. Vielmehr verspricht der Kreml, noch mehr Raketen nach Mitteleuropa zu richten.

Olympia-Boykott und nukleare Produktion sind sowjetische Wahlgeschenke an Reagan, dessen Ablöse im Weißen Haus an der Moskwa mit Sicherheit wärmstens begrüßt würde. Dem amerikanischen Präsidenten wurde noch ein anderes Feld eher widerstandslos überlassen: der Südosten.

Am 9. Mai sagte Moskau die Reise von Vizepremier Archipow nach Peking grundlos ab und verpaßte damit die Chance, Reagan die bei dessen Besuch im Lande Dengs letzten April eingeheimsten Erfolge wieder abzujagen. So aber entsteht der Eindruck, daß Moskau mit Rückzug reagiert, wo eine raumgreifende Initiative erwartet wird.

Und in der Härte, den Widerstand in der eigenen Bevölkerung gegen Menschenrechtsverletzung und Parteiomnipotenz zu brechen, ist unter Tschernenko des Vorgängers ganzer Arbeit nichts mehr zuzulegen.

Nachdem es in den Beziehungen zu Washington kaum mehr schlechter werden kann und Moskaus Entspannungsschalmeien in Europa nicht die geringste Wir-, kung zeigen, kann es sich der Kreml leisten, die Weltmeinung in den Wind zu schlagen. Demnach verringert sich auch der Einfluß, der westlichen Politikern und internationalen Organisationen zukommt, um das menschliche Schicksal politisch Verfolgter im roten Reich zu erleichtern.

Wer einmal als Streiter um Menschenrechte weltweites Aufsehen erregt hat, ist heute in die Emigration abgeschoben oder hinter Gittern. Ein Anatoli Schtscharanski etwa geht mit Sicherheit dem Tod entgegen und die vielen Petitionen aus dem Westen vermochten nicht, den sowjetischen Behörden eine humanitäre Reaktion abzufordern.

Unter diesen Umständen bangt die freie Welt mehr denn je um Leben und Schicksal des ins moskauferne Gorki verbannten Nobelpreisträgers Andrej Sacha-row. Seit 2. Mai ist der Ätomphy-siker im Hungerstreik — das letzte verzweifelte Mittel, um seine Forderung durchzusetzen. Es geht um die Gattin des tapferen Mannes, Frau Jelena Bonner, deren Krankheit nur im Westen geheilt werden kann. Die Bürokraten jedoch willigten nicht in die Ausreise ein. Zehn Tage später begann auch die Leidens- und Lebensgefährtin, Nahrung zu verweigern.

In einem in den USA veröffentlichten Brief schreibt Sacharow: „Ich werde meinen Hungerstreik nur beenden, wenn meiner Frau die Ausreise erlaubt wird!" Am entschlossenen und bitteren Ernst des Nobelpreisträgers ist nicht zu zweifeln. In diesem Sinne äußert sich auch Sacharows Schwiegertochter Tatjana Jankilewitch in Paris: „Ich sehe keinen Grund, die feste Entschlossenheit meiner Eltern in Zweifel zu ziehen!"

Im Jahre 1981 hat Sacharow schon einmal zu diesem selbstmörderischen Mittel gegriffen, um der Frau des Schwiegersohnes die Emigration zu erzwingen. Nach siebzehn Tagen gaben die Behörden nach.

Diesmal geht es um Leben und Tod, umso mehr, als die Gesundheit Sacharows nach einer Operation und einer Reihe von Herzanfällen arg geschwächt ist.

Europas führende Staatsmänner von Mitterrand, Suarez bis zu Helmut Kohl sind sich der tötli-chen Alternative wohl bewußt. Tschernenko und Co. werden mit Bitten und Protesten überhäuft. Die Europäische Gemeinschaft als Gesamtheit schickte eine Bitte um Humanität an den Kreml.

Sacharow, das ist schon lange nicht mehr nur eine Sache der schwerfälligen Bürokratie. Auch im Kreml gibt es zweifellos Persönlichkeiten, die den internationalen Aufschrei über den Tod des großen Menschenrechtskämpfers vermeiden wollen. Die Solidarität der Wissenschaftler in aller Welt muß auch den Kreml in Erstaunen setzen.

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