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Barmherzige Samariter von heute

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Lebendiges Christentum in Dritte-Welt- und Selbstbesteuerungsgruppen

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Lebendiges Christentum in Dritte-Welt- und Selbstbesteuerungsgruppen

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Zehn Jahre lang hatte die Familienrunde im offenen Begegnungszentrum der Karmeliten im 19. Wiener Gemeindebezirk sich wöchentlich zum Gebet, zum Lesen der Bibel, zur religiösen Weiterbildung und zur Eucharistiefeier versammelt, bevor sie die Dritte Welt entdeckte. Es war ein langer Prozeß der religiösen und menschlichen Reifung, der die Mitglieder dieser „Gemeinde 76" befähigte, über die eigene Gruppe, die Pfarre, die Diözese und die Grenzen Österreichs hinauszuschauen und in einer wahrhaft „katholischen" Sichtweise die Dimension der Weltkirche ins Blickfeld zu nehmen.

Langsam war das Bewußtsein gewachsen, daß der Glaube auch sieht- und spürbare Konsequenzen im eigenen Leben haben müsse und daß sich dies nicht nur auf das nähere soziale Umfeld beschränken könne. So entschlossen sich die Mitglieder der Gruppe, sich selbst zu besteuern und wenigstens durch einen verkraftbaren finanziellen Verzicht Zeichen der Solidarität mit den „fernen Nächsten" in der Dritten Welt zu setzen. Projekte der Entwicklungsförderurig und der Pastoralhilfe wurden in Afrika, Asien und Lateinamerika unterstützt, und dies war wieder ein Anlaß, um in Gesprächen mit Bischöfen, Priestern und Laien aus diesen Ländern Hoffnungen und Sorgen zu teilen.

Heute geht die Selbstbesteue-rungsgruppe'über die Familienrunde hinaus und umfaßt zehn Personen beziehungsweise Familien, die im Jahr rund 120.000 Schilling zusammenbringen. Aber es geht längst nicht mehr nur um einen Transfer von Geld: Heute lesen die Selbstbe-steuerer die Zeitung anders als vor zehn Jahren, haben Interessen für das Leben der Kirche und die Nöte der Menschen in anderen Teilen der Welt, und die Sozialenzyklika Papst Johannes Pauls II. „Sollicitudo rei socialis" war ihnen ein intensives Studium wert.

Tugend der Solidarität

Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. In den letzten zehn Jahren sind im kirchlichen (und außerkirchlichen) Bereich Hunderte Selbstbe-steuerungs- und Dritte-Welt-Gruppen entstanden, die grenzüberschreitende Solidarität als christliche Tugend entdeckten und in die Praxis umsetzten. Da es bisher nicht zu einer umfassenden Vernetzung dieser Gruppe kam, kann ihre Zahl nur geschätzt werden. Als gesicherte Untergrenze kann man von mindestens tausend solcher Gruppen

ausgehen, die zusammen mindestens 20 Millionen Schilling aufbringen. Diese gewaltige Summe wird zum Teil über die großen traditionsreichen kirchlichen Organisationen, wie zum Beispiel Päpstliche Missionswerke, Dreikönigsaktion der Jungschar, Familienfasttag der Frauenbewegung, „Bruder in Not"-Aktion der Männerbewegung und Caritas, zum Teil über österreichische Missionare und sonstige konkrete Kontaktpersonen für soziale und pastorale Zwecke in Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt.

Freilich machen die erwähnten 20 Millionen Schilling nicht einmal vier Prozent der gesamten kirchlichen Mittel aus, die 1989 aus Österreich in die Dritte Welt geflossen sind: 1989 haben die offiziellen Dritte Welt-Organisationen zusammen für Projektförderung 511 Millionen Schilling aufgewendet. Dazu kommen noch rund 25 Millionen Schilling für Bildungs- und Informationsarbeit in Österreich.

Wenn man bedenkt, daß die meisten Mitglieder kirchlicher Dritte Welt-Gruppen auch ihren Beitrag zu den großen kirchlichen Sammlungen für die Menschen im Süden unserer Erdkugel leisten, stellt sich die Frage, was einen Christen dazu bringt, sich über den finanziellen

Beitrag aus dem Überfluß hinaus besonders für die Dritte Welt zu interessieren und zu engagieren.

Durchaus auf Papst-Linie

Einerseits sind es Menschen, die durch direkte eigene Erfahrung, etwa als Entwicklungshelfer, oder durch authentische Berichte aus den Slums der lateinamerikanischen Städte oder den Hungergebieten Afrikas Einblick in die Not, die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen in Entwicklungsländern bekommen haben. Sie reagieren vor allem auf ganz konkrete Impulse, ohne darüber eine tiefere sozial-_ wissenscha f tliche oder theologische Analyse anzustellen. Es sind Nachfahren des Barmherzigen Samariters, aber sie wollen auch die Hintergründe des Überfalls auf den Wanderer nach Jericho wissen.

Andererseits handelt es sich bei diesen überdurchschnittlich Engagierten um Christen, die in einer bewußten Reflexion über ihren Glauben und über die Übereinstimmung von Glauben und konkreter Tat immer wieder „Kurskorrekturen" ihres Lebens durchführen. Sie erkennen, daß sie „... dem Willen des Schöpfers untreu würden, wenn sie den schwierigen, aber auch beglückenden Auftrag zurückweisen

wollten, das Los des ganzen Menschen und aller Menschen zu verbessern..." (Johannes Paul II.). So fügen sie sich ein in das Heilsgeschehen, indem sie ihrer Berufung durch Gott nachkommen. Das Wachsen dieser Gruppe von Christen, die das Wort Gottes und das eigene Leben in Einklang bringen wollen - auch in Hinsicht auf die Solidarität mit den Menschen in der Dritten Welt -, ist eines vieler Zeichen für eine neue Qualität des praktizierten Glaubens und eine Hoffnung für die ganze Kirche.

Auch wenn es manchmal inner -und außerhalb der Kirche Kritik an einzelnen dieser Gruppen gibt, weil den Kritikern deren „weltliches" Engagement zu ausgeprägt erscheint, liegt die überwiegende Mehrzahl der kirchlichen Dritte Welt-Gruppen durchaus auf der Linie, die Papst Johannes Paul II. in seinen Enzykliken „Sollicitudo rei socialis" und „Redemptoris missio" vorgezeichnet hat. Daß die Forderungen des Papstes in diesen Gruppen bereits eine entsprechende Antwort gefunden haben, ist eine der erfreulichen, positiven Entwicklungen in unserer Kirche.

Der Autor ist Geschäftsführer der Koordinierungsstelle der Österreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mis-

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