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Bayrische Provokation

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Seit dem Spruch des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes im August, wonach die bisherige Bonus-Malus-Regelung im Zulassungsverfahren zum Hochschulstudium für verfassungswidrig erklärt und bereits für das Sommersemester 1976 in Bayern außer Kraft gesetzt werden soll, ist die ohnehin strapazierte Bildungspolitik der Bundesrepublik in äußerste Bedrängnis geraten. Ohne einstweilige Verfügung aus Karlsruhe, die mittlerweile von Nordrhein-Westfalen im Auftrag der nichtbayerischen Bundesländer in die Wege geleitet wird und zumindest auf eine Fristverlängerung um ein Jahr abzielt, scheint das Chaos vorprogrammiert zu sein.

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Seit dem Spruch des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes im August, wonach die bisherige Bonus-Malus-Regelung im Zulassungsverfahren zum Hochschulstudium für verfassungswidrig erklärt und bereits für das Sommersemester 1976 in Bayern außer Kraft gesetzt werden soll, ist die ohnehin strapazierte Bildungspolitik der Bundesrepublik in äußerste Bedrängnis geraten. Ohne einstweilige Verfügung aus Karlsruhe, die mittlerweile von Nordrhein-Westfalen im Auftrag der nichtbayerischen Bundesländer in die Wege geleitet wird und zumindest auf eine Fristverlängerung um ein Jahr abzielt, scheint das Chaos vorprogrammiert zu sein.

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Denn Bayern hat erklärt, es werde — gebunden durch seine Verfassungsrichter — für das Sommerse-imester keine Notenunterlagen mehr an die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund schicken und seine sieben Universitäten den von Dortmund zugewiesenen außerbayerischen Bewerbern verschließen. Begründet wird diese drastische Maßnahme damit, daß sich die anderen Länder dem in Bayern im Rahmen des bestehenden Staatsvertrages einzig -möglich erscheinenden Kompromiß — der Vergabe der Studienplätze nach einer ungewichteten Länderquote — einstimmig widersetzen.

Der nationale Schock über das angebliche „Bildungsdefizit“, die Um-organisation der Hochsohulen und das Nachrücken geburtenstarker Jahrgänge hatten in den frühen siebziger Jahren dazu geführt, daß die Kapazitäten mancher Fakultäten — insbesondere im Bereich-der Medizin und der Naturwissenschaften — für die vorhandene Nachfrage nicht lehr ausreichten. Die deutschen Bundesländer schlössen daraufhin 1972 einen auf fünf Jahre befristeten Staatsvertrag, in dem sie sich verpflichteten, die Kapazitäten der einzelnen Hochschulen einheitlich zu erfassen, für das Abitur vergleichbare Normen zu schaffen und den Zugang zu den Numerus-clausus-Fä-chern über eine zentrale Vermittlung zu regeln. In den Durchführungsbestimmungen wurde dann als Übergangslösung das sogenannte „Bonus-Malus“-System festgelegt. Danach wird aus dem Ergebnis der einzelnen Länder der „Bundesnotendurchschnitt“ nach Dezimalwerten ermittelt. Unterschreitet die nicht gerundete Durchschnittsnote eines Landes die ebenfalls nicht gerundete Gesamtdurchschnittsnote, „so werden für das Vergabeverfahren die Noten der Reifezeugnisse dieses Landes um die Differenz heraufgesetzt, im umgekehrten Fall entsprechend herabgesetzt“. Ausgehend von den vorhandenen Kapazitäten, bestimmt dann ihrerseits die Zentralstelle Grenznoten für die einzelnen „höchstzahlbegrenzten Studienvorgänge“. Wer das „Soll“ erfüllt, wird vermittelt, wobei Ortswünschen und gewissen Härtefällen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird. Wer das „Soll“ unterschreitet, kommt — wenn er das beantragt — auf die Warteliste. Von allen vorhandenen Studienplätzen in Numerus- clausus-Fächern werden im Auswahlverfahren vorab verschiedene Quoten abgezogen: 15 Prozent für Härtefälle, acht Prozent für Ausländer und in den medizinischen und pharmazeutischen Fakultäten 0,5 bis 2 Prozent für Angehörige der Bundeswehr und des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Die verbleibende Anzahl der Studienplätze wird dann zu 60 Prozent „nach Eignung und Leistung“ — einer vornehmen Umschreibung der Grenznote — und zu 40 Prozent an Bewerber, „die nach der Dauer der Zeit seit dem Erwerb der Berechtigung für den gewählten Studiengang ausgewählt werden“, verteilt.

Im eben anlaufenden Wintersemester 1975/76 haben rund 51.000 lernwillige Studenten keinen Zugang zu den angestrebten Fächern an den Universitäten erhalten. 27 Prozent der 190.000 Antragssteller mußten sich somit mit einem negativen Bescheid aus Dortmund oder aus den einzelnen Hochschulen, wo der Zugang für Zweitsemester geregelt wird, abfinden. Als 1973 erstmals bundesweit „höchstzahlbegrenzte Studiengänge“ festgelegt wurden, waren es insgesamt zehn Fächer: Pharmazie, Zahmedizin, Humanmedizin, Tiermedizin, Architektur, Biologie, Psychologie, Chemie, Biochemie und Lebensmittelchemie. Heute ist ihre Zahl bereits auf 26 angewachsen. Zusätzlich zum vorigen Katalog fallen jetzt ebenfalls unter den Numerus clausus: Bauingenieurwesen, Betriebswirtschaft, Datentechnik, Elektrotechnik, Ernährungswissenschaft, Geographie, Haushaltswissenschaft, Haushalts- und Ernährungswissenschaft, Informatik, Mathematik, Ökonomie, Pädagogik, Physik, Rechtswissenschaft, Volkswissenschaft und Wirtschaftspädagogik. Für 1978 ist der totale Numerus clausus in Sicht.

Ein Maturant, der in diesem Herbst ein Medizinstudium aufnehmen wollte, mußte die Note 1,9 aufweisen. Für Zahnmedizin waren 2,0 und für Pharmazie 2,2 erforderlich. Für Medizinaspiranten, die seit 1970 auf der Warteliste standen, genügten 1,01, für seit 1970 wartende Zahnarztadepten 3,2. Interessenten für Pharmazie, die bereits seit 1969 anstehen, müssen dagegen immer noch ein Minimum von 2,4 aufweisen. Und auch für die überständigen Human- und Zahnmedizinstudenten öffnet sich das Tor zur Hochschule nur dann, wenn sie mittlerweile ihrer Dienstpflicht Genüge getan haben.

Schon diese summarische Übersicht macht deutlich, daß die geltende Regelung nicht nur höchst willkürliche und der tatsächlichen Fachneigung keineswegs angemessene Grenzen setzt, sondern überdies einen Stau schafft, der auch die bisher vom Numerus clausus verschonten Fächer allmählich überflutet. Das erstere wurde in diesem Sommer einer breiten Öffentlichkeit klar, als die Olympiasiegerin im Weitsprung, Ulrike Meyfarth, an der Sporthochschule Köln keinen Studienplatz erhielt, weil ihre Abiturnote anstatt der erforderlichen 2,5 nur einen Durchschnitt von 3,2 ergab. Und die Zunahme der Numerus-clausus-Fä-cher um 160 Prozent binnen zweier Jahre stellt unter Beweis, daß das sogenannte „Parkstudium“, jener, die auf die Warteliste gesetzt wurden, andere Fächer dauernd verstopft. Dazu kommt die Unzufriedenheit mit der Dortmunder Praxis, die nur mehr teilweise mit Anlaufschwierigkeiten entschuldigt werden kann. Allein im Wintersemester 1973/ 1974 liefen 1800 Prozesse an wegen fehlerhafter Zuteilung; im Wintersemester 1974/75 waren beispielsweise an der Technischen Universität

München zehn Prozent der verfügbaren Plätze für Architektur nicht vergeben. An der TH Darmstadt sind im Wintersamester 1975/76 sogar 59 Prozent der Physikplätze anfänglich unbesetzt geblieben.

Die zur Zeit etwas in den Hintergrund gerückte Bildungspolitikerin der FDP, Hildegard Hamm-Brücher, hat mit ihren bereits 1973 ausgesprochenen Warnungen vor diesem Zulassungsmodus in den meisten Punkten Recht behalten. So läßt es sich heute kaum leugnen, daß die Verabsolutierung der Schulnote die Gymnasien wieder allzu einseitig auf den Weg einer Drillschule mit extremen Leistungsanforderungen zurückführt. Zum anderen sind — wie vorhergesagt — die Absolventen des zweiten oder beruflicher Bildungs-wege durch die sture Festlegung auf Höchstnoten zusätzlich diskriminiert worden.

Zur Zeit zeichnen sich im wesentlichen zwei Lösungsversuche ab, die insofern übereinstimmen, als sie die Wartezeiten weitgehend abschaffen und zusätzliche Testverfahren einführen wollen. Der eine Versuch entwickelte sich hauptsächlich aus dem bayerischen Anstoß und läuft auf eine Zuteilung nach gewichteten Länderquoten hinaus. Entsprechend dem jeweiligen Anteil der 18- bis 21j ährigen an der Gesamtbevölkerung, der Landesbevölkerung an der Gesamtbevölkerung, der Landesabiturienten an den Bundesabiturienten sowie anderen Parametern, wie: Anteile der Studienbewerber, Studienplätze und Übertrittsquoten von der ersten zur zweiten Sekundarstufe, soll eine

Landesquote errechnet werden. Als weitere Kriterien dienen dann nach manchen Vorstellungen die gewichtete Abiturnote sowie fachliche und persönliche Prüfungsverfahren. Ein anderer, vom Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Gerhard Jahn, vertretener Vorschlag basiert auf dem Prinzip des Loses. Die Bewerber sollen dabei in drei Gruppen gegliedert werden: die erste umfaßt mit zehn Prozent die sehr gut und gut benoteten Abiturienten. Auf sie würden 50 Prozent der zur Verfügung stehenden Plätze verteilt werden. Damit könnte jeder von ihnen sofort studieren. Die zweite Gruppe umfaßt die durchschnittlich Benoteten. Auf sie entfielen 30 Prozent der Kapazität. Der Rest von 20 Prozent schließlich würde auf die letzte Gruppe verteilt werden, in der die 40 Prozent der mäßig und schlecht Benoteten zusammengefaßt wären.

Kompliziert sind beide Praktiken; ein einfacherer und damit besserer Vorschlag ist jedoch nicht in Sicht. Der kürzlich noch von den baden-württembergischen CDU-Kulturpolitikern Hahn und Pfeifer vorgeschlagene Weg ist nichts anderes als eine Kombination der beiden anderen: Länderquote und Gruppensystem, unter Weglassung des Losverfahrens. Zusätzlich erschwert wird eine Gesamtlösung zudem durch die Frage, ob die neue Regelung durch ein Bundesgesetz oder durch eine Novellierung des Staatsvertrags der Länder erfolgen soll. Problematisch ist außerdem, ob der nach dem Grundgesetz, Artikel 12, verankerte Anspruch auf freie Wahl der Ausbildungsstätte überhaupt in der bisherigen Form aufrecht erhalten bleiben kann. Der bayerische Kultusminister Maier hat den Vorstoß in München eine „heilsame Provokation“ genannt.

Es ist ein theoretisches, das heißt politisch-philosophisches Problem, wie ein diktatorisches oder totalitäres Regime in eine andere Regierungsform umgewandelt werden könnte. In Portugal ist es seit April 1974 ungewiß geblieben, welche Form der vielberufene und nie genau definierte Begriff „Sozialismus“ in diesem Lande annehmen würde. Das Ende von Francos persönlicher Herrschaft in Spanien wirft ebenfalls die Frage auf, was an die Stelle eines von niemandem in seinen Entschlüssen eingeschränkten Caudülo treten wird oder kann.

Die Institutionen sind das Rückgrat des politischen Lebens; wenn ein solches Rückgrat bricht, tritt zunächst Lähmung ein. Diese muß irgendwie behoben werden, damit Staat und Nation in geordneten Verhältnissen, unter einer neuen Regierung, weiterleben können. Die Frage aber, welcher Art die neuen Verhältnisse sein sollen, bleibt bei einem Regimewechsel weit offen, das heißt: unbeantwortet. Deshalb folgen nach Revolutionen oder Staatsstreichen meistens „provisorische“ Regierungen den gestürzten und verschwundenen. Was aber auf das Provisorium folgen wird, bleibt allemal ungewiß.

Es gehört eine starke Dose Naivität zu dem in unserer westlichen Welt verbreiteten Glauben, auf eine Diktatur müsse eine geordnete, verständige, pluralistische und parlamentarische Demokratie folgen. Gerade die Vergangenheit mit ihrer Gewöhnung an eine autoritäre Regierungsform und deren bürokratische und polizeiliche Stützen macht den Übergang zu einer ganz anderen Regierungsform schwer. - An Beispielen fehlt es nicht. In Rußland kam 1917 nach dem Sturz des Zarentums eine provisorische Regierung ans Ruder, die dem Volk ein demokratisches Regime nach westlichem Vorbild in Aussicht stellte. Doch nach Lenins Staatsstreich und einem blutigen Bürgerkrieg ist Rußland, wenngleich mit einem anderen ideologischen Vorzeichen, erst recht ein autokratisch regierter Staat geworden. Auch nach dem Zusammenbruch der Zentralmächte im Jahre 1918 war es keineswegs sicher, ob in deren Nachfolgestaaten eine liberalere Regierung auf die in Österreich ohnedies schon liberale Monarchie folgen würde. In Ungarn und in Bayern kamen zunächst revolutionäre Diktaturen ans Ruder, ehe sie von einer Reaktion — im eigentlichen Wortsinn — gestürzt wurden. In Deutschland ist 1919 von der Nationalversammlung in Weimar ein parlamentarisches und demokratisches Modell zur Reichsverfassung erhoben worden; aber der Weimarer Republik fehlte es an Autorität und Überzeugungskraft, so daß sie nach vierzehn Jahren von Hitlers Totalitarismus abgelöst werden konnte. — Die Beispiele ließen sich vermehren.

Bei der Beurteilung der spanischen Frage muß man bedenken, daß der Caudillo während nahezu vierzig Jahren beinahe unangefochten regieren konnte. Als eine legendäre Figur und als ein Staatschef, der alle wesentlichen Dinge der Politik selbstständig zu entscheiden pflegte, verkörperte General Franco die Stabilität und Kontinuität eines Regimes, das aus einem grausamen Bürgerkrieg hervorgegangen war. Francos Spanien ist nicht, wie das Italien Mussolinis oder das Deutschland Hitlers, in einem Krieg besiegt worden; Franco ist auch nicht, wie der Portugiese Caetano, durch einen Staatsstreich der Militärs gestürzt worden. Es ist anzunehmen, daß die spanischen Minister und Beamten, die das Regime und seine Prinzipien bewahren wollen, sich auf die Armee und die Polizei stützen können. Diese Machtpositionen haben eine echte Chance, Franco zu überleben, zumal sie sich auf die neue Lage vorbereiten konnten.

Sicher gibt es oppositionelle Kräfte im Lande, aber wir wissen nicht, ob sie von einer Mehrheit im Volke unterstützt werden. Außerdem sind die Gegner des Regimes untereinander so verschieden, daß sie nicht als eine Gemeinschaft oder als Parteienkoalition auftreten können. Es wäre daher kaum möglich, wie in Portugal die nichtkommunistischen Parteien und die Kommunisten zu einer gemeinsamen Aktion zusammenzuschließen — aus dem einfachen Grunde, weil in Portugal wie in Spanien oder anderswo eine freiheitlich-demokratische und eine kommunistisch-totalitäre Auffassung einander ausschließen.

Entweder wird dieser Antagonismus der Rechten zugute kommen, oder aber den Kommunisten, falls es ihnen gelingt, alle anderen Kräfte aus den Machtpositionen im Staate auszuschließen. Es wird zweifellos lange dauern, bis sich allgemein akzeptierte Institutionen in Portugal und in Spanien herausbilden.

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