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Bedrohte Menschheit

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Ein einmaliger Fall: Der Direktor des Burgtheaters, Gerhard Klingenberg, hat Besucher gewarnt, die Vorstellungen des Stük-kes „Lear“ von Edward Bond zu besuchen, falls sie glauben, Szenen der Unmenschlichkeit nicht ertragen zu können. Angst vor empörtem Protest. Es kam zu keiner Ablehnung. — Von Shakespeares „Lear“ übernahm Bond kaum viel. Bonds König hat nur zwei Töchter, Bodice und Fontanelle, wird von ihnen besiegt, entmachtet, gegen sie steht Cordelia auf, eine Frau aus dem Volk. Als ihr Mann, der „Totengräbersohn“, ermordet wird,, reißt sie als Anführerin einer Bebellion die staatliche Macht an sich.

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Ein einmaliger Fall: Der Direktor des Burgtheaters, Gerhard Klingenberg, hat Besucher gewarnt, die Vorstellungen des Stük-kes „Lear“ von Edward Bond zu besuchen, falls sie glauben, Szenen der Unmenschlichkeit nicht ertragen zu können. Angst vor empörtem Protest. Es kam zu keiner Ablehnung. — Von Shakespeares „Lear“ übernahm Bond kaum viel. Bonds König hat nur zwei Töchter, Bodice und Fontanelle, wird von ihnen besiegt, entmachtet, gegen sie steht Cordelia auf, eine Frau aus dem Volk. Als ihr Mann, der „Totengräbersohn“, ermordet wird,, reißt sie als Anführerin einer Bebellion die staatliche Macht an sich.

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Es werden damit drei Herrschaftsformen vorgeführt: die Lears, die der Töchter, die Cordelias. Lear ist ein grausamer Herrscher, die durch und durch verbrecherischen Töchter begehen Greuel, unter der siegenden Rebellion Cordelias ist es nicht anders. Schauriges Weltbild: Der Aufstand gegen das Ungeheuerliche zeugt wieder Ungeheuerliches. Wir haben es erlebt.

Ist es nun notwendig, die Untaten in aller Deutlichkeit vorzuführen? Bond erklärt mit Recht, unsere Gesellschaft sei von Gewalt besessen, das könne zu einer Ausrottung der gesamten Menschheit führen. Deshalb müsse man den Menschen ihre Greuel vorhalten. Die Absicht ist zweifellos ehrlich, aber der Effekt kann ein gegenteiliger sein: Gewöhnung, Abstumpfung.

Und Lear? Aus dem Täter wird der Mißhandelte, Vertriebene, der bei der Autopsie Fontanelles — eine abstrus bemerkenswerte Szene — die Schönheit der Naturordnung am Beispiel des Menschen erkennt. Als er durch den Totengräbersohn Güte erfährt, kommt er zur Einsicht in seine „Fehler“, der getötete Gutherzige begleitet ihn fortan als Geist, als ein zweites besseres Ich, und Lear predigt nun Mitleid, erklärt Cordelias Moral als Form der Gewalt. Und schließlich will er jene Mauer, die er selbst errichten ließ — Schutz vor Feinden und damit Symbol der Feindschaft zwischen den Menschen — abtragen, wobei er erschossen wird.

Ist aber Lears Wandlung zur Güte glaubhaft? Kaum, die didaktische Absicht ergibt eine konstruierte Gestalt. Ja, die Wendung zur Predigt und zur Symbolhandlung des Mauerabtragens kann nur hilflos wirken gegenüber den Elementargewalten, die das Ungeheuer Mensch beherrschen. Das Stück läßt einen gleichgültig, das dramatische Geschehen wird undramatisch, meist unmotiviert vorgeführt. Ein ungefüges Werk, in dem man allerdings in einzelnen Szenen dichterische Kraft spürt.

Edward Bond führte selbst Regie. Vielleicht weil er mit einer Wiener Schriftstellerin verheiratet ist. Seine Regie wirkt konventionell, ohne eigenes Konzept. Die Greuelgeschehnisse werden nicht besonders herausgestellt. Der Bühnenbildner Hayden Griffin beschränkte sich darauf, den enorm hohen Bühnenraum seitlich durch kahle Wände, im Hintergrund durch eine graue Wolkenwand abzuschließen, ansonsten Versatzstücke. Das nicht zwingend Gefügte der Geschehnisse verliert sich im riesenhaften Raum. Richard Münch bleibt als Lear in pathetischem Sprechen stecken, in früheren Rollen gestaltete er. Blanche Aubry und Ida Krottendorf kann man es nicht verargen, daß die unmenschlichen Töchter durch sie nicht glaubhaft wirken. Elisabeth Orth läßt als Cordelia Farbe vermissen. Wolfgang Hübsch trocknet als Geist des Totengräbersohnes, wie es das Manus verlangt, immer mehr ein. Insgesamt gibt es mehr als 50 Rollen, schauspielerische Formungskraft läßt sich außer bei Lear kaum einsetzen. Das liegt am Autor.

Poetisches Theater, Steigerung des Dichterischen, ist kaum noch in neuen Stücken zu finden. Da denkt man wohl an die besten Bühnenwerke von Jacques Audiberti zurück, die diesem Bereich zugehörten. Doch hat er, wie mit Recht festgestellt wurde, ein Werk von verwirrender Vielfalt hinterlassen. Das zeigt sich auch bei den drei Einaktern, die derzeit im Experiment am Lichtenwerd aufgeführt werden. Sie sind recht unbekümmert hingeschrieben, es ging ihm merkbar darum, auch einmal sarkastisch, witzig zu sein. Aber das lag ihm nicht. In „Nach Ladenschluß“ („Boutique fermee“) wird die Sucht, eine Heilige zu kreieren, lächerlich gemacht: Die Auserkorene erweist sich als Gangstermädchen. In dem Einakter „Der klassische Schrank“ gelingt es, den „mondänen Verführer“ von der Gattin des Ehemanns auf die Kusine abzulenken. Und in dem Stück „Ein schönes Kind“ ist der erwachsene Säugling zum Erstaunen der Eltern lediglich durch einen Kuß auf elektronischem Weg entstanden. Derlei hätte Audiberti bleiben lassen sollen. Gelöstes Spiel unter der Regie von Fritz Holy vor allem von Angelika Raubek und Gertrud Frey, von Roland Knie und Günther Vollmann. Von Erwin Bau stammt das schlichte Bühnenbild.

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