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Beengte Grenzenlosigkeit

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Vor einiger Zeit ist in deutscher Übersetzung ein Buch erschienen, das in den Vereinigten Staaten bereits vor zehn Jahren herauskam. Sein Originaltitel hieß ganz anspruchslos „Briefe an Jimmy“ und sein Verfasser ist ein Mann mit Namen Henry Viscardi. Er wurde ohne Beine geboren. So war ihm nach damaliger Auffassung - Viscardi ist jetzt fast siebzig - die Rolle vorgeschrieben, lebenslang ein Schattendasein zu führen.

In dieser Meinung trafen sich Behinderte und Nichtbehinderte. Die Briefe des beinlosen Autors an einen gleichfalls schwer behinderten jungen Mann sind ein erregendes Zeugnis für den Ausbruch aus diesem cordon sanitaire, diesem schützenden und schutzlos ma- , chenden Gefängnis der öffentlichen Meinung.

Um diese Mitwelt, der die meisten von uns angehören, geht es nach Viscar- dis Meinung überhaupt in erster Linie, um die Gesunden, um die Nichtbehinderten.

Ihr Urteil, davon überzeugt der Autor, ist vielfach schief. Ein Beispiel nur

dafür: Ehen unter Behinderten können scheitern - und schon sind wir anderen bereit, den Grund dafür in der Behinderung zu suchen. Wie können Behinderte es wagen, so leben und lieben zu wollen wie wir? Das sagen wir natürlich nicht - denken es aber.

Flugs haben wir vergessen, aus welchen tausend Gründen unsere eigenen Ehen morsch werden, bis hin zu totaler Fäulnis. Einer von diesen tausend Gründen war eben auch für das Zerbrechen der Behindertenehe verantwortlich. Das ist leicht einzusehen. Wir aber starren auf Blindenbrille, Prothesen und Rollstuhl, als enthüllten sie, was wir selbst geheimhalten.

Wie wir Kranke in das Getto des Spitals verweisen, wo sie stellvertretend für uns den Rücken hinhalten, ebenso laden wir Behinderten Fehler und Fehlleistungen auf, um selbst fehlerfrei zu bleiben.

Wiederum sagt keiner es so laut, wie der Mann im Tempel damals, aber jeder denkt es ebenso. Wir kennen alle den verhängnisvollen Satz: Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht wie die anderen Leute bin, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher. Und unsere Fortsetzung lautet: Oder auch wie der Mann im Rollstuhl dort.

Falsche Erwartungen stören also das Verhältnis von Behinderten und Nichtbehinderten. Nennen wir zunächst einige bei den Behinderten.

Ganz obenan steht da jene, daß die Welt den Behinderten etwas schulde. Nein, sagt Viscardi und wird dann herzerfrischend amerikanisch! Du schuldest ihr etwas! Den Beweis nämlich, daß Deine Behinderung keine Strafe ist, die im Schmollwinkel abgesessen wird, sondern ein Auftrag Gottes, der Dir mit ihr eine besondere Chance gibt. Du

sollst aus Deinem Leben, das Dir nichts schenkt, ein Geschenk für andere machen.

Das belegt der Schreiber sehr anschaulich mit vielen Beispielen, von denen er selbst mit seiner beruflichen Karriere nicht das schlechteste ist.

Ebenso deutlich zerstört er eine weitere falsche Erwartung Behinderter. Gar zu leicht meinen sie, daß die anderen, Nichtbehinderten mit allen Problemen des Lebens leichter fertig würden. Hier möchte ich aus eigener langjähriger Erfahrung als Behinderter behaupten, daß es eher umgekehrt ist.

Die angenommene Behinderung erst machte mich im Lauf vieler Jahre fähig, auch Lebensprobleme anzunehmen und mit ihnen fertig zu werden. Auch ich leide ja schließlich - und darin geht es mir ähnlich wie den meisten Behinderten - nicht nur unter der einen großen Schwäche. Das ist in meinem Fall der zähe und unaufhaltsame Verfall des Gehörs. Ich habe darüber hinaus aber Rheuma, oft Geldnöte, manchmal Wohnungssorgen, ich erlebe an mir und anderen Enttäuschungen, mache mir Illusionen und an ihrem Ende Vorwürfe.

Ich bin eben, wie alle Behinderten, sozusagen im Hauptberuf ein ganz und gar normale Zeitgenosse und keineswegs immer nur auf meine Behinderung fixiert. Sie aber hat mich Maßstäbe gelehrt, mir Kräfte gegeben und mir vor allem die Fähigkeit zum Danken geschenkt.

Falsche Erwartungen sind bei den Nichtbehinderten aber in noch größe

rer Zahl anzutreffen. Auch hier wieder ein paar Beispiele: Viele, längst nicht alle Behinderte brauchen länger als üblich elterliche Betreuung. Oft sind die nächsten Angehörigen anfangs voller Ablehnung. Schlägt dann aber die Liebe durch, gebärdet sie sich leicht tyrannisch. Dann bleibt der Behinderte ein Nesthocker und verpaßt den Absprung in die Freiheit. Nun erst wird er wirklich ein Krüppel.

Ein anderes Beispiel: Behinderte sind von der stillschweigenden Erwartung umgeben, sie müßten ständig Danke sagen.

Zu sprechen ist nun aber auch noch, ohne den Umweg über falsche Erwartungen, von zwei richtigen. Wieder folgen wir Henry Viscardi dabei. Er sagt: Der Behinderte soll sich grundsätzlich zutrauen, unerschöpfliche Fähigkeiten zu haben!

Diese so sehr amerikanisch klingende Weisheit wird aber dialektisch ergänzt durch die Aufforderung, mit seinen Grenzen leben zu lernen. Ganz unbekümmert setzt der Autor das nebeneinander - und ich muß ihm recht geben, weil beides sich tatsächlich nicht widerspricht.

Der Bogen, mit dem der Behinderte umgeht, ist gespannt und langweilig wird es in seinem Leben nie. Dies umso mehr, als seine Träume ihn ständig in ein Land entfuhren, wo man gehen, tanzen, Blüten sehen, Vogelstimmen hören oder auch nur den Löffel stillhalten kann. Aber träumen Nichtbehinderte weniger von einer heilen Welt?

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